(Ungekürzte Fassung) Von HAUKE RITZ, 26. August 2008 –
Ausblicke auf eine Präsidentschaft Obamas:
Die politischen Zyklen der westlichen Welt sind eng verknüpft mit den
Amtszeiten amerikanischer Präsidenten. Mit jedem neuen US-Präsidenten
verändert die Welt ein wenig ihren Charakter. So war die Präsidentschaft
Clintons mit einer optimistisch nach außen vertretenen Globalisierung
verbunden. Was im Heimatland des Imperiums eine riesige Finanzblase
erzeugte, führte allerdings von Südostasien, Russland und Ländern
Lateinamerikas zu einer ganzen Reihe tragischer Wirtschaftskrisen. Die
Amtszeit Bushs war eng verknüpft mit dem „War on Terror“. Der selbst
ernannte Kriegspräsident gewöhnte die Welt an die Wiedereinführung von
Folter und geheimen Gefängnissen. Nach acht Jahren Regierungszeit ist
das Ansehen der USA stark beschädigt und beschränkt zunehmend auch den
Bewegungsspielraum amerikanischer Außenpolitik.
Nun bereiten sich die Vereinigten Staaten erneut auf einen
Regierungswechsel vor. Man fragt sich, welcher Flügel der Elite nun an
die Macht kommen wird und womit die Welt als nächstes zu rechnen hat.
Vieles deutet darauf hin, dass Barack Obama zurzeit die besten
Aussichten hat, der kommende amerikanische Präsident zu werden. Obama
wird von dem Multimilliardär George Soros und dem ehemaligen
Sicherheitsberater unter Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski, unterstützt.
Brzezinski ist zugleich der führende außenpolitische Berater Obamas.
Als graue Eminenz unter den amerikanischen Geostrategen verkörpert er
die Sichtweisen und Interessen eines ganzen Flügels der amerikanischen
Elite. Aufgrund seines intellektuellen Ranges muss sein Einfluss als
sehr hoch veranschlagt werden. Unter einer Präsidentschaft Obamas werden
höchstwahrscheinlich die geopolitischen Vorstellungen dieser
"Brzezinski-Fraktion" zum Tragen kommen. Hinzu kommt noch, dass Zbigniew
Brzezinskis Tochter, die Fernsehmoderatorin Mika Brzezinski, Obama
unterstützt, während ihr Bruder Mark Brzezinski ebenfalls zu den
Beratern Obamas gehört.
Zbigniew Brzezinski gilt heute neben Henry Kissinger als einer der
führenden Strategen amerikanischer Außenpolitik im 20. Jahrhundert. Als
sein Hauptwerk ist das 1997 veröffentlichte Buch „The Grand Chessboard“
anzusehen, das einen tiefen Einblick in die langfristigen Interessen
amerikanischer Machtpolitik gewährt. „The Grand Chessboard“ ist heute
noch aktuell, weil es einen analytischen Abriss der geopolitischen
Zielsetzungen der USA für einen Zeitraum von dreißig Jahren enthält. In
seinem jüngsten Buch „Second Chance“ aus dem Sommer 2007 unterzieht er
die Regierungen Bush I, Clinton und Bush II einer tief greifenden
Kritik. Der Vorwurf lautet, sie hätten die Chance, nach dem
Zusammenbruch der UdSSR ein System dauerhafter amerikanischer
Vorherrschaft zu errichten, unzureichend genutzt. Brzezinski sieht
jedoch eine „Zweite Chance“. Diese besteht darin, die unilaterale
Politik einzuschränken und verstärkt auf Kooperationen und Absprachen
mit Europa und China zu setzen. Auch mit Syrien, Iran und Venezuela
sollen Verhandlungen aufgenommen werden. Zugleich soll jedoch Russland
isoliert und möglicherweise auch destabilisiert werden.
Die wesentliche Differenz zwischen Brzezinski und den
Neokonservativen besteht im Verhältnis zum Islam und zu Israel.
Brzezinski setzt sich für eine konstruktive Lösung des
Israel-/Palästinenser-Konfliktes ein. Denn als klassischem Geopolitiker
sind ihm, anders als Bush junior, religiöse Motive fremd. In jüngster
Zeit trat er zudem als Kritiker einer Politik auf, die sich auf einen
Kampf der Kulturen gründet. Er befürchtet, dass der Kulturkampf zwischen
dem Westen und dem Islam langfristig die amerikanischen Interessen im
Nahen Osten beschädigen könnte. Nachdenklich stimmt Brzezinskis
Kommentar zu Samuel Huntingtons Vorhersage eines Kampfes der Kulturen: "Huntington’s case appeared to be a provocative Prophecy that ought not be allowed to become self-fullfilling.”[1]
(„Der Fall Huntington wirkte wie eine provokative Prophezeiung, der man
es besser nicht gestatten sollte, zu einer selbsterfüllenden zu
werden.“) Doch diese Differenzen dürfen nicht darüber hinweg täuschen,
dass sich Brzezinski hinsichtlich des Ziels US-amerikanischer
Vorherrschaft mit den Neokonservativen einig ist. Glaubten Letztere
dieses Ziel durch die direkte militärische Kontrolle der Ölvorräte des
Nahen Ostens zu erreichen, so könnte sich unter einer von Brzezinski
beeinflussten Präsidentschaft Obamas der Schwerpunkt amerikanischer
Außenpolitik auf die aufsteigenden Rivalen Russland und China verlagern.
Eine von Brzezinskis beeinflusste US-Außenpolitik hätte zum vorrangigen
Ziel, eine weitere Vertiefung der Bündnisbeziehungen zwischen beiden
Staaten, wie sie sich in der Shanghai Cooperation Organisation (SCO)
vorbereiten, zu verhindern. Ziel wäre es, China durch spezielle Angebote
aus dem Bündnis zu lösen und Russland zu isolieren. Als Sohn eines
polnischen Diplomaten lebte Zbigniew Brzezinski im Alter von 8 bis 10
Jahren während des Höhepunkts der stalinistischen Säuberungen in der
Ukraine. Möglicherweise ist dies der Grund, warum Brzezinskis Denken auf
verhängnisvolle Weise auf Russland fixiert ist. Wie im folgenden zu
zeigen sein wird, gibt es begründeten Anlass zu der These, dass sich
unter einer Präsidentschaft Obamas die bereits eingeleitete Entwicklung
hin zu einem neuen Kalten Krieg weiter verschärfen wird.
Brzezinskis Strategie amerikanischer Vorherrschaft
Dies wird besonders deutlich, wenn man die beiden zentralen Prämissen
berücksichtigt, die Brzezinski seinem Hauptwerk „The Grand Chessboard“ –
aber auch all seinen anderen Schriften – zu Grunde legt. In deutscher
Übersetzung heißt das Buch: „Die einzige Weltmacht“. Dieser Titel
bezeichnet den ersten Grundsatz, nämlich den erklärten Willen der USA,
vorerst die „einzige“ und – wie Brzezinski es nennt – sogar „letzte“[2] Weltmacht zu bleiben. Noch entscheidender ist jedoch die zweite Prämisse. Ihr zufolge ist Eurasien „das Schachbrett, auf dem der Kampf um globale Vorherrschaft auch in Zukunft ausgetragen wird.“[3]
Diesem zweiten Grundsatz liegt die Einschätzung zu Grunde, dass eine
Macht, die in Eurasien die Vorherrschaft gewinnt, damit auch die
Vorherrschaft über die gesamte übrige Welt gewonnen hätte. „Dieses
riesige, merkwürdig geformte eurasische Schachbrett - das sich von
Lissabon bis Wladiwostok erstreckt - ist der Schauplatz des global
play.“[4] "[…] wobei eine Dominanz auf dem gesamten eurasischen Kontinent noch heute die Voraussetzung für globale Vormachtstellung ist."[5] Und
zwar einfach deshalb, weil Eurasien der mit Abstand größte Kontinent
ist, auf dem 75 Prozent der Weltbevölkerung leben und der dreiviertel
der weltweit bekannten Energievorkommen beherbergt. Brzezinski folgert
deshalb: „Eine Macht, die Eurasien beherrscht, würde über zwei der
drei höchst entwickelten und wirtschaftlich produktivsten Regionen der
Welt gebieten.“ Außerdem sind „Amerikas potentielle Herausforderer auf politischem und/oder wirtschaftlichem Gebiet […] ausnahmslos eurasische Staaten.“4
Brzezinski kommt deshalb zu dem Schluss, dass das erste Ziel amerikanischer Außenpolitik darin bestehen muss, „dass
kein Staat oder keine Gruppe von Staaten die Fähigkeit erlangt, die
Vereinigten Staaten aus Eurasien zu vertreiben oder auch nur deren
Schiedsrichterrolle entscheidend zu beeinträchtigen.“[6] Es gelte, „die Gefahr eines plötzlichen Aufstiegs einer neuen Macht erfolgreich (hinauszuschieben).“ Die USA verfolgen das Ziel, „die beherrschende Stellung Amerikas für noch mindestens eine Generation und vorzugsweise länger zu bewahren ...". Sie müssen „das Emporkommen eines Rivalen um die Macht (…) vereiteln.“[7]
Diese Äußerungen klingen zehn Jahre später durch ihr überzogenes
Selbstbewusstsein außerordentlich fragwürdig. In seinem jüngsten Buch
sieht Brzezinski jedoch eine „zweite Chance“, das Bemühen um eine
dauerhafte amerikanische Vorherrschaft umzusetzen. Dies wird besonders
deutlich an der Rolle, die Brzezinski damals wie heute Europa zuspricht.
Ein transatlantisch orientiertes Europa hat für die USA die Funktion
eines Brückenkopfes auf dem eurasischen Kontinent.[8]
Gemäß dieser Logik würde eine EU-Erweiterung nach Osten zwangsläufig
auch eine Osterweiterung der NATO nach sich ziehen. Diese wiederum – so
die Idee – soll den amerikanischen Einfluss weit nach Zentralasien
ausdehnen und einen Machtvorsprung gegenüber Konkurrenten sichern. „Amerikas
zentrales geostrategisches Ziel in Europa lässt sich also ganz einfach
zusammenfassen: durch eine glaubwürdigere transatlantische Partnerschaft
muss der Brückenkopf der USA auf dem eurasischen Kontinent so gefestigt
werden, dass ein wachsendes Europa ein brauchbares Sprungbrett werden
kann, von dem aus sich eine internationale Ordnung der Demokratie und
Zusammenarbeit nach Eurasien hinein ausbreiten lässt.“[9]
Brzezinski war sich jedoch bereits 1997 bewusst, dass auch bei
erfolgreicher Durchführung dieses Plans Amerikas Weltmachtposition nur
von kurzer Dauer sein kann. Warnend schreibt er an anderer Stelle: „Amerika
als die führende Weltmacht hat nur eine kurze historische Chance. Der
relative Frieden, der derzeit auf der Welt herrscht, könnte kurzlebig
sein.“[10] Brzezinski definiert deshalb als langfristiges Ziel dieses Machterhalts die Fähigkeit, „ein dauerhaftes Rahmenwerk globaler geopolitischer Zusammenarbeit zu schmieden.“[11] Er spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „transeurasischen Sicherheitssystem (TSEE)“[12],
das über die Grenzen einer nach Zentralasien erweiterten NATO hinaus
Kooperationen mit Russland, China und Japan beinhalten würde.
Doch was ist mit einem transeurasischen Sicherheitssystem konkret
gemeint? Haben sich andere Staatsmänner hierzu jemals geäußert? In der
Tat fällt ein interessantes Licht auf Brzezinskis Ziele, wenn man sie
mit Äußerungen konfrontiert, die der russische Präsident Wladimir Putin
in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 10.2.2007
gemacht hat. Putin warnte in seiner Rede vor der von den USA nach dem
Kalten Krieg favorisierten Geopolitik, die seiner Ansicht nach eine „unipolare Welt“ anstrebe.
„In wie freundlichen Farben auch immer man [eine solche unipolare
Welt] ausmalen mag, letztlich beziehe sich der Terminus auf eine
bestimmte Situation, in der es ein Zentrum der Staatsgewalt, ein
Machtzentrum und ein Entscheidungszentrum gibt. Das ist eine Welt, in
der es einen Herrn gibt, einen Souverän.“ „Was gegenwärtig in der Welt
geschieht, ist eine Folge der Versuche, genau dieses Konzept, das
Konzept einer unipolaren Welt, in die internationalen Beziehungen zu
tragen. (…) Gegenwärtig erleben wir eine fast unbeschränkte, übermäßige
Anwendung von Gewalt – militärischer Gewalt – in den internationalen
Beziehungen, einer Gewalt, die die Welt in einen Abgrund permanenter
Konflikte stürzt. Im Ergebnis haben wir nicht genügend Kraft, auch nur
einen dieser Konflikte wirklich umfassend zu lösen. Politische Lösungen
zu finden, wird gleichfalls unmöglich. (…) Ein Staat – und dabei spreche
ich natürlich zunächst und vor allem von den Vereinigten Staaten – hat
seine nationalen Grenzen in jeder Hinsicht überschritten.“[13]
Versucht man also auf Basis von Brzezinskis Darlegung der
langfristigen Strategien amerikanischer Außenpolitik zu einem
Verständnis von Putins Warnung vor einer „unipolaren Welt“ zu kommen, so
ergibt sich folgende Lesart: Die USA streben an, ihren Einfluss auf dem
asiatischen Kontinent immer weiter auszudehnen. Dabei dient ihnen
Europa als Sprungbrett auf den eurasischen Kontinent. Da jede
Osterweiterung Europas unter den gegebenen Umständen zugleich auch den
amerikanischen Einfluss ausdehnt, sollen durch eine Kombination aus
EU-Osterweiterung und Expansion der NATO viele der ehemaligen
Sowjetrepubliken – wie zum Beispiel Georgien, Aserbaidschan und
Usbekistan – in die westliche Einflusszone integriert werden. Maßgeblich
für diese Integration ist, dass sich ein Land für ausländisches Kapital
öffnet und an das westliche Rechtsverständnis anpasst. Geschieht dies,
dann ist es westlichen Konzernen möglich, sich die Rohstoffvorkommen zu
sichern und über die Medien Einfluss auf die Öffentlichkeit eines
Landes zu gewinnen. Da die Region um das Kaspische Meer über die
zweitgrößten Öl- und Gasreserven verfügt und zudem militärstrategisch
von besonderer Bedeutung ist, könnte eine westliche Vormachtstellung in
dieser Region die Position der USA auf dem eurasischen Kontinent massiv
stärken.
Zusammen mit der Kontrolle der US-verbündeten OPEC-Staaten
Kuwait, Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate, Katar und den
eroberten Staaten Irak und Afghanistan könnte so eine Vorherrschaft der
USA über Zentralasien ihnen die nötige Autorität verleihen, um von dort
schließlich ganz Eurasien, einschließlich Chinas und Russlands, in eine
von den USA entworfene überstaatliche Sicherheitsstruktur zu
integrieren. Die von Europa ausgehende NATO-Osterweiterung und die von
der Bush-Administration im Süden Eurasiens (Irak, Afghanistan)
begonnenen militärischen Interventionen bilden zusammen gewissermaßen
einen Keil, mit dem die USA in das Herz der eurasischen Landmasse
vorstoßen.
Gelänge es den USA, dieses Ziel zunächst in Eurasien zu erreichen, so
wäre die so hergestellte Ordnung aufgrund der Größe und Bedeutung des
eurasischen Kontinents paradigmatisch für die gesamte übrige Welt.
Lateinamerika, Afrika, Australien und alle Inselstaaten wären gezwungen,
sich einer solchen Ordnung anzuschließen. Die USA wären dann nicht nur
die „einzige“, sondern – wie Brzezinski es formuliert – auch die „letzte echte Supermacht“[14].
Denn innerhalb der dann allmählich hergestellten globalen staatlichen
Integration würde staatliche Souveränität weitgehend ihren Sinn
verlieren und Geopolitik an sich an ihr Ende gelangen. Nationalstaaten
würden – wie langfristig auch in der EU – zunehmend die Rolle von
Bundesstaaten annehmen. Zugleich wäre der Planer und Hegemon eines
solchen eurasischen Zusammenschlusses in der Lage, eine solche Ordnung
so zu gestalten, dass er sie weiterhin latent dominiert, vergleichbar
etwa der privilegierten Machtposition, die das Tandem
Frankreich-Deutschland innerhalb der EU einnimmt. Es würde sich in der
Tat um eine unipolare Welt handeln, wenn auch – dies muss hinzugefügt
werden – die dann ausgebildete Machtstruktur ähnlich schwer
identifizierbar und fassbar geworden sein dürfte wie heute schon in der
EU. In Brzezinskis eigenen Worten klingt dies wie folgt:
„Schließlich könnte ein solches Europa sogar ein Eckpfeiler einer
unter amerikanischer Schirmherrschaft stehenden größeren eurasischen
Sicherheits- und Kooperationsstruktur werden.“[15]
„Käme das TESS (Transeurasisches Sicherheitssystem) also eines Tages
zu Stande, wäre Amerika nach und nach einiger seiner Lasten ledig, auch
wenn es weiterhin als stabilisierende Kraft und als Schiedsrichter in
eurasischen Belangen eine maßgebliche Rolle spielen würde.“[16]
Ein „von multinationalen Korporationen, Organisationen (…) geknüpftes
Netz schafft bereits ein informelles Weltsystem, (…). Im Laufe der
nächsten Jahrzehnte könnte somit eine funktionierende Struktur
weltweiter Zusammenarbeit, die auf dem geopolitischen Gegebenheiten
gründet, entstehen und allmählich die Insignien des derzeitigen
Herrschers der Welt annehmen (nämlich der U.S.A.) (Anm. H.R.),(…). Ein geostrategischer Erfolg dieser Zielsetzung wäre dann die durchaus angemessene Erbschaft, die Amerika als erste, einzige und letzte echte Supermacht der Nachwelt hinterlassen würde.“[17]
Der verdrängte Gewaltindex unilateraler Politik
Die USA haben – seit Brzezinski diese Ziele formulierte – einen
starken Verlust geopolitischer Macht erfahren. In seinem jüngsten Buch
„Second Chance“ gibt Brzezinski offen zu, dass der Plan einer direkten
militärischen Besetzung einiger Länder des Nahen Ostens, wie sie den
Neokonservativen vorschwebte, gescheitert ist. Doch diese Niederlage ist
für Brzezinski nicht so massiv, dass er die 1997 formulierten Pläne
einer amerikanischen Vorherrschaft in Eurasien grundsätzlich aufgeben
möchte. Das Scheitern der direkten militärischen Machtausdehnung im
Süden Eurasiens bedeutet für ihn lediglich, dass nun die von Europa
ausgehende Osterweiterung der NATO an Priorität gewinnt. Dies bedeutet
jedoch einen massiven Vorstoß in die russische Einflusssphäre. Damit
würde nach dem Iran nun Russland ins Fadenkreuz der amerikanischen
Geopolitik geraten.
Die unipolare Welt, von der Putin vor einem Jahr auf der Münchner
Sicherheitskonferenz sprach, ist also keine Schimäre, sondern ein reales
geopolitisches Projekt der USA. Man mag einwenden, dass eine dauerhaft
von den USA dominierte Welt ähnlich unspektakulär sei wie eine von
Deutschland und Frankreich dominierte EU. In diesem Fall würde der von
Putin benutzte Begriff einer „unipolaren Welt“ wahrscheinlich zu hoch
greifen. Dem ließe sich entgegenhalten, dass zwar ein transeurasisches
Sicherheitssystem auf Korporationen mehrerer Partner angewiesen sein
würde, aber letztlich die USA – wie auch heute in der NATO – doch der
maßgebliche Akteur und Gestalter dieses Systems wären. Dies ist schon
daran ersichtlich, dass die USA im Zuge der Expansion der NATO nach
Osten Tatsachen schaffen, ohne Russland und China wirklich einzubeziehen
bzw. deren Sicherheitsinteressen ernst zu nehmen. Putin ließ in
seiner Münchner Rede daher keinen Zweifel am imperialen Grundcharakter der so von den USA angestrebten Vormachtstellung.
„Im Ergebnis ist (eine unipolare Welt) verheerend, nicht nur für
alle, die diesem System angehören, sondern auch für den Souverän selbst,
weil es ihn von innen heraus selbst zerstört. Und mit Demokratie hat
dies ganz gewiss nichts gemein. Denn Demokratie ist, wie sie wissen, die
Herrschaft der Mehrheit unter Berücksichtigung der Interessen und
Meinungen der Minderheit.“ „Ich bin der Auffassung, dass das unipolare
Modell nicht nur inakzeptabel, sondern in der heutigen Welt auch
unmöglich ist. Und zwar nicht nur deshalb, weil für die Führung einer
einzelnen Macht in der heutigen – ausgerechnet in der heutigen – Welt
weder die militärischen noch die politischen und ökonomischen Ressourcen
ausreichen würden. Noch wichtiger ist, dass das Modell selbst verfehlt
ist, weil ihm keine moralischen Fundamente für die moderne Zivilisation
zu Grunde liegen.“ „Unilateral und häufig illegitime Aktionen haben kein
einziges Problem gelöst. Vielmehr haben sie neue menschliche Tragödien
verursacht und neue Spannungsherde geschaffen. Urteilen Sie selbst: die
Zahl der Kriege wie auch der lokalen und regionalen Konflikte hat sich
nicht vermindert. Herr Teltschik hat dies sehr behutsam angesprochen.
Und in diesen Konflikten gehen nicht weniger Menschen zugrunde – es
sterben sogar noch mehr als zuvor. Beträchtlich mehr! Entschieden mehr!“[18]
Was der russische Präsident anspricht, ist der in westlichen Medien
weitgehend verdrängte Gewaltindex unilateraler Politik. Es liegt auf der
Hand, dass das Handeln der USA in den zurückliegenden sieben Jahren
wenig Wert auf internationale Absprachen und Konsensbildung gelegt hat.
Das Völkerrecht wurde durch das unilaterale Handeln der USA zunehmend
ausgehöhlt, während Institutionen wie die UNO geschwächt worden sind. An
ihre Stelle sind die so genannten friedenserhaltenden Einsätze der USA,
EU oder NATO (zum Beispiel im ehemaligen Jugoslawien) getreten, bei
denen selbstverständlich vorausgesetzt wird, dass das westliche
Verteidigungsbündnis oder westliche Staaten die gesamte Weltgemeinschaft
vertreten können.
Viele weitere Beispiele zeigen die Zunahme an weltweiter Gewalt als
Folge des unilateralen Handelns der USA. Man denke nur an die präventive
Erstschlagdoktrin der USA und ihre Anwendung im Irakkrieg. Oder man
führe sich den Einsatz von Uranmunition im Irak- und Afghanistankrieg
vor Augen, der – in der Presse weitgehend verschwiegen – in beiden
Kriegsgebieten die Missbildungsrate bei Säuglingen vervielfacht hat.[19]
Zu nennen ist zudem die in die Wege geleitete NATO-Osterweiterung bis
ans Kaspische Meer, die Russland zwangsläufig beunruhigen muss. Ähnlich
verhält es sich mit der Stationierung eines Raketenschildes nicht nur in
Tschechien und Polen, sondern auch in weiteren an Russland angrenzenden
Regionen, wie dem Nordmeer und Alaska. Schließlich ist noch die durch
die USA vorangetriebene Aufrüstung im Weltraum zu nennen, von deren
strategischer Logik noch zu reden sein wird. All diese Handlungen weisen
einen hohen Gewaltindex auf. Sie sind einseitig beschlossen, nie
kritisch im Licht der Öffentlichkeit diskutiert oder durch
internationale Vereinbarungen legitimiert worden. Dies zeigt deutlich,
dass die von den USA angestrebte Weltordnung nicht auf Konsensbildung
und demokratischen Absprachen beruht. Stattdessen lässt das politische
Handeln der Vereinigten Staaten die Strategie erkennen, durch Schaffung
vollendeter Tatsachen einen Machtvorsprung vor China und Russland zu
gewinnen. Durch den drastischen Anstieg der Rüstungsausgaben seit dem
11. September, die längst alle Rekorde des Kalten Krieges hinter sich
gelassen haben, versuchen die USA einen technologisch uneinholbaren
Vorsprung vor ihren Konkurrenten zu erlangen. Diese Politik ist
gefährlich, da sie Gegenreaktionen hervorruft und bereits jetzt ein
neues Wettrüsten in Gang gesetzt hat. Und es ist fraglich, ob dieser
Politik ihre Gefährlichkeit genommen werden kann, indem ein zukünftiger
Präsident Obama mit China und Europa Absprachen trifft, Russland aber
weiterhin einer verschärften militärischen Bedrohung aussetzt.
Die strategische Logik des Raketenschildes
Besonders deutlich wird diese Politik am Beispiel der strategischen
Funktion des geplanten Raketenschilds. Dessen Stationierung in Polen und
Tschechien ist nicht dazu gedacht, Raketen aus dem Iran abzufangen.
Erstens verfügt der Iran gar nicht über Raketen mit einer Reichweite von
5000–8000 Kilometer. Zweitens ist die Entwicklung solcher Raketen ein
langwieriger Prozess, da von ersten Testflügen, die kaum unbemerkt
vonstatten gehen könnten, bis zur endgültigen Fertigstellung Jahre
vergehen. Und drittens: Wäre das Raketenschild dennoch gegen den Iran
gerichtet, so wäre in diesem Fall der russische Kompromissvorschlag, ein
gemeinsames Raketenabfangsystem in Aserbaidschan zu errichten, weit
besser geeignet. Denn dort stationierte Abfangraketen könnten iranische
Raketen bereits am Beginn ihrer Flugbahn treffen und zerstören.
Trümmerteile würden in diesem Fall nicht über Europa, sondern über
unbewohntem Gebiet, nämlich dem Mittelmeer oder dem Schwarzen Meer,
niedergehen. Dass die USA diesen Kompromissvorschlag ausgeschlagen
haben, lässt nur einen Schluss zu: Der Raketenschild richtet sich in
erster Linie nicht gegen den Iran, sondern gegen Russland. Dies wird
zudem dadurch unterstrichen, dass auch die anderen Basen des
Raketenschildes in Grenzregionen zu Russland, wie z. B. Alaska,
stationiert sind.
Es ist bis heute nicht geklärt, wie weit die Fähigkeit Washingtons,
nukleare Langstreckenraketen bereits im Orbit abzufangen, eigentlich
entwickelt ist. Oft wird daraus der Schluss gezogen, der Raketenschild
hätte faktisch kaum eine militärische Bedeutung, und die russischen
Sorgen seien unbegründet. In der Tat wäre ein funktionierender
Raketenschild wahrscheinlich nur in der Lage, einige Dutzend nuklear
bestückter Raketen abzufangen. Gegen einen realen nuklearen
Überraschungsangriff mit vielen hundert oder tausend Sprengköpfen könnte
dagegen auch ein Raketenschild nichts ausrichten. Das bedeutet aber
nicht, dass der Raketenschirm gar keine militärische Bedeutung hätte,
sondern lediglich, dass der Raketenschirm keine defensive Funktion hat.
Seine Funktion ist in der Tat offensiver Natur. Dies wird deutlich, wenn
man sich die strategische Bedeutung von Nuklearwaffen vor Augen führt.
Während des Kalten Krieges haben sich beide Seiten stets darum
bemüht, eine nukleare Erstschlagskapazität zu erwerben. Diese war
gewissermaßen der Trumpf, auf den beide Seiten mit ihren
Rüstungsanstrengungen hinarbeiteten. Eine nukleare Erstschlagskapazität
bedeutet, dass eine Seite in der Lage ist, die jeweils andere in einem
Überraschungsangriff zu enthaupten und sie somit der Fähigkeit zu
berauben, einen Gegenschlag auszuführen. Dies kann auf verschiedene
Weise geschehen. Etwa indem man entweder alle gegnerischen Atomwaffen in
einem Überraschungsschlag außer Gefecht setzt oder aber die
Kommandostrukturen vollständig lahm legt. Und schließlich, indem man
einen Gegenschlag soweit zu begrenzen vermag, dass es möglich ist, ihn
erfolgreich abzuwehren. Genau hier kommt der Raketenschild ins Spiel.
Seine militärische Bedeutung beruht nicht darin, einen russischen
Erstschlag mit Hunderten von Raketen abzufangen. Seine Aufgabe besteht
darin, nur ein paar Dutzend Raketen abzufangen – nämlich jene, die
Moskau nach einem US-amerikanischen Überraschungsangriff noch für einen
Zweitschlag zur Verfügung stehen würden. Der Raketenschild ist also ein
entscheidender Faktor in dem Bemühen, eine nukleare Erstschlagskapazität
gegenüber Russland aufzubauen. Zwar ist zunächst geplant, nur zehn
Abfangraketen in Polen zu stationieren. Doch sofern das System erst
einmal errichtet ist, könnte deren Zahl leicht erhöht werden.
Dass diese strategischen Überlegungen bei derzeitigen amerikanischen
Rüstungsanstrengungen tatsächlich eine Rolle spielen, zeigt ein im
April/Mai 2006 in den foreign affairs publizierter Aufsatz. Der Essay trägt den Titel: „The Rise of U.S. Nuclear Primacy“[20] („Der Aufstieg der USA zur nuklearen Vorherrschaft“).
Die beiden Autoren Keir A. Lieber und Darley G. Press stellten sich
darin die Frage, ob China oder Russland im Falle eines nuklearen
Überraschungsangriff durch die USA in der Lage wären, mit einem
Zweitschlag zu reagieren. Um zu ermitteln, wie sehr sich das nukleare
Gleichgewicht seit dem Ende des Kalten Krieges verschoben hat, ließen
die Autoren im Computermodell einen US-amerikanischen
Überraschungsangriff auf Russland simulieren. Sie benutzten dabei die
Methoden, die im Verteidigungsministerium seit Dekaden benutzt werden.
Das Ergebnis war, dass die russischen Verteidigungskräfte weitgehend
radarblind sind und selbst einen von U-Booten im Pazifik aus begonnenen
Angriff wahrscheinlich erst bemerken würden, wenn die ersten Raketen
Moskau erreichten. Selbst wenn ein Überraschungsangriff der USA darauf
verzichten würde, zu allererst die Radaranlagen und die
Kommandozentralen auszuschalten, wären Lieber und Press zufolge die USA
in der Lage, circa 99 Prozent der russischen Atomraketen im Erstschlag
zu zerstören. Das eine Prozent der verbliebenen russischen Atomraketen,
die Moskau in einem Zweitschlag noch abfeuern könnte, würde
wahrscheinlich – so die Autoren – durch das Raketenschild neutralisiert
werden.
Dieser Artikel führt vor Augen, worin die eigentliche Funktion des
Raketenschildes besteht. Er soll die USA in die Lage versetzen, einen
Atomkrieg zu führen, ohne selbst von Gegenschlägen getroffen zu werden.
Wäre diese Fähigkeit erst einmal erworben, ließe sie sich als
geopolitisches Druckmittel verwenden, um Interessen durchzusetzen. Zudem
könnte eine absolute nukleare Überlegenheit dazu dienen, einen
Machtverlust auf wirtschaftlichem oder finanzpolitischem Gebiet
auszugleichen. Dass es sich dabei um mehr als nur eine pessimistische
Befürchtung handelt, zeigen noch andere Aspekte der amerikanischen
Rüstungsanstrengungen.
So entwickeln die USA derzeit Atomwaffen mit begrenzter Sprengkraft.
Diese so genannten „Mini Nukes“ werden wiederum zu speziellen
bunkerbrechenden Waffen weiterentwickelt. Das Besondere an diesen Waffen
ist, dass sie mit hoher Geschwindigkeit auftreffen und sich einige
Meter tief in die Erde bohren können, um auf diese Weise im Idealfall
unterirdisch zu explodieren.[21]
Offiziell begründet man die Entwicklung dieser neuen Generation von
Atomwaffen mit dem Ziel, nur auf diese Weise Bunkeranlagen tief unter
der Erde – wie etwa im Iran – mittels der entstehenden Druckwelle
zerstören zu können.[22]
Doch diese Begründung ist zweischneidig. Zum einen hat man damit
indirekt zugegeben, dass die schon öfter von Journalisten aufgedeckten
Pläne[23],
in einem möglichen zukünftigen Irankrieg Atomwaffen einzusetzen,
durchaus ernst zu nehmen sind. Zum anderen besitzt nicht nur der Iran
solche Bunker. Auch entscheidende Kommandostrukturen der russischen
Nuklearstreitkräfte befinden sich in unterirdischen Bunkeranlagen. Diese
liegen so tief, dass sie mit oberirdisch explodierenden Atomwaffen
nicht zerstört werden können. Die Entscheidung, bunkerbrechende
Atombomben zu entwickeln, könnte somit als Teil der strategischen
Bemühungen bewertet werden, auf die auch schon der US-amerikanische
Raketenschild abzielt. Nämlich durch die Fähigkeit, unterirdische
Kommandostrukturen präventiv zu zerstören, eine nukleare
Erstschlagskapazität zu erwerben.
Aber auch unabhängig davon bedeutet die Entwicklung von Atomwaffen
mit begrenzter Sprengkraft, dass auf diese Weise die negativen Folgen
eines Atomkriegs – wie zum Beispiel die Verstrahlung der Atmosphäre oder
die Entstehung eines nuklearen Winters – stark gemildert werden. Auf
diese Weise sinkt aber auch die Hemmschwelle zum Einsatz des nuklearen
Feuers. Schließlich fügen sich auch die Bemühungen der USA,
Waffensysteme im Weltraum zu stationieren, in die Bemühungen ein, eine
nukleare Erstschlagskapazität zu erwerben. Denn die Fähigkeit,
feindliche Satelliten zu zerstören, ist eine wesentliche Voraussetzung,
die kommunikativen Fähigkeiten des Gegners lahm zu legen.
Wie sehr diese Rüstungsstrategie der USA die russische Regierung
beunruhigt, machen einige Sätze deutlich, die Putin während des G 8
Gipfels in Heiligendamm auf einer Pressekonferenz an die versammelten
Reporter richtete. Die Brisanz seiner Äußerung wird dadurch
unterstrichen, dass die gesamte Pressekonferenz in der deutschen und
amerikanischen Presse zensiert worden ist und die Leser deutscher
Zeitungen bis heute gar nicht erfahren haben, dass diese Pressekonferenz
überhaupt stattgefunden hat.
„Tatsächlich entwickelt sich gerade ein Wettrüsten. Aber waren wir
es, die sich aus dem ABM-Vertrag zurückgezogen haben? (…) Wir haben
ihnen bereits vor zwei Jahren gesagt: „Tut das nicht, Ihr braucht dies
nicht zu tun. (…) Ihr zerstört das System der internationalen
Sicherheit. (…) Nein, sie hörten nicht auf uns. Dann hörten wir, dass
sie Nuklearwaffen mit begrenzter Sprengkraft entwickelten, und sie
arbeiten weiter daran, diese Sprengköpfe zu entwickeln. (…) Aber
vielleicht wäre es besser, nach anderen Wegen und Mitteln Ausschau zu
halten, (…) anstatt Atomwaffen mit begrenzter Sprengkraft zu entwickeln,
und damit die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen zu senken und die
Menschheit auf diese Weise an den Rand einer nuklearen Katastrophe zu
bringen. Aber sie hören nicht auf uns. Wir sagen: Installiert keine
Waffen im Weltraum. Wir wollen das nicht tun. Nein, es geht weiter: „Wer
nicht mit uns ist, ist gegen uns“. Was ist das? Ist das ein Dialog oder
die Suche nach einem Kompromiss?“[24]
„Ich möchte nicht, dass Sie der Illusion erliegen, dass wir
irgendjemanden nicht mehr lieben. Aber manchmal denke ich bei mir:
Warum tun sie all dieses? Warum versuchen unsere amerikanischen Partner
so hartnäckig, ein Raketenabwehrsystem in Europa aufzustellen, wo es
doch – und dies ist absolut offensichtlich – nicht erforderlich ist,
iranische Raketen oder – noch offensichtlicher – nordkoreanische Raketen
abzuwehren? (Wir wissen alle, wo Nordkorea liegt und welche Reichweite
diese Raketen haben müssten, um Europa erreichen zu können.) Also ist
das Abwehrsystem eindeutig nicht gegen diese Länder gerichtet, und es
ist eindeutig nicht gegen Russland gerichtet, denn es ist für jedermann
zu sehen, dass Russland keinerlei Vorbereitungen trifft, irgendjemanden
anzugreifen. Also warum?“24
„Wir sagten, dass wir nicht die Ressourcen und nicht den Wunsch
haben, ein solches System (Raketenabwehrsystem) aufzustellen. Aber als
Profis verstehen wir, dass eine Illusion von Sicherheit entsteht, wenn
die eine Seite ein solches System hat und die andere nicht und dass dies
die Möglichkeit eines nuklearen Konfliktes erhöht.“ (…) „Und wenn
dieses Gleichgewicht in der Welt schließlich zerstört wird, dann wird es
eine Katastrophe nicht nur für Russland, sondern auch für die gesamte
Welt sein.“ 24
Die Vorgeschichte des neuen Kalten Krieges
Diese Zitate, die an sich schon ein Dokument des neuen Kalten Krieges
sind, werfen die Frage auf, wodurch diese Entwicklung eigentlich
verursacht wurde? Welche Faktoren haben dazu geführt, dass der Kalte
Krieg trotz des Sieges des Kapitalismus in eine zweite Runde geht? Oder
hatte er vielleicht niemals aufgehört?
Das Russland-Kapitel in Brzezinskis Hauptwerk fällt jedenfalls durch
eine sehr polemische Überschrift auf. Er bezeichnet darin Russland als
„Das schwarze Loch“. Dieser abwertende Titel hat inhaltliche
Konsequenzen für die Bestimmung der Rolle, die Brzezinski Russland
zuspricht. Es fällt auf, dass er Russland nach der Selbstauflösung der
Sowjetunion kaum noch das Recht auf einen eigenen geopolitischen
Einflussbereich zugesteht. Auch Russlands Bemühen, auf der Basis
wirtschaftlicher Kooperationen und militärischer Zusammenarbeit Einfluss
in einigen der ehemaligen Sowjetrepubliken zu bewahren, wird von
Brzezinski als „geostrategische Wunschvorstellung“[25]
verworfen. Stattdessen entwirft er in seinem Buch das Bild eines
zukünftigen Russland, das seine Bestrebungen nach geopolitisch
selbstständigem Handeln weitgehend aufgegeben hat und sich stattdessen
in Fragen der Sicherheitspolitik der NATO und in Fragen der
Wirtschaftspolitik dem IWF, der Weltbank und ähnlichen Institutionen
unterordnet. Die Tatsache, dass russische Außenpolitiker Weißrussland,
die Ukraine und andere ehemalige Sowjetrepubliken als ihre natürliche
Einflusssphäre ansehen, bewertet Brzezinski unterschiedslos als „imperiale Restauration“[26] oder „imperialistische Propaganda“[27]. Versuche, in Zukunft eine geopolitisch bedeutende Position zurück zu erlangen, nennt er „nutzlose Bemühunge“"27. An einer Stelle schlägt Brzezinski sogar eine Teilung Russlands in drei oder vier Teile vor: „Einem
lockerer konföderierten Russland – bestehend aus einem europäischen
Russland, einer sibirischen Republik und einer fernöstlichen Republik –
fiele es auch leichter, engere Wirtschaftsbeziehungen mit Europa, den
neuen Staaten Zentralasiens und dem Osten zu pflegen…“.[28]
Die unverhohlene Arroganz, mit der sich Brzezinski 1997 über Russland
äußerte, zeigt, dass er dem ehemaligen Gegner im Kalten Krieg allenfalls
die Rolle einer Kolonie bzw. eines Drittweltlandes zuordnet. Lapidar heißt es an einer anderen Stelle: „Gebietseinbußen sind somit nicht Russlands Hauptproblem.“27
Andererseits spiegeln diese Äußerungen aber auch Russlands reale
Stellung nach einer ganzen Serie wirtschaftlicher Rezessionen wider, die
1998 mit der Abwertung des Rubels einen ihrer Höhepunkte erreichte.
Russland war seinerzeit hoch verschuldet und hat einen Teil seiner
wirtschaftspolitischen Souveränität wie ein Land der Dritten Welt an den
IWF und die Weltbank abgeben müssen. So beendete Brzezinski 1997 sein
Kapitel über Russland mit den Worten: "Tatsächlich besteht das
Dilemma für Russland nicht mehr darin, eine geopolitische Wahl zu
treffen, denn im Grunde genommen geht es ums Überleben.“[29] Mittlerweile
hat sich gezeigt, dass Russland in der Tat überlebt hat und seine
geographische Ausdehnung zu bewahren vermochte. Russland ist nicht
länger jenes „schwarzes Loch“, in dem ausländische Mächte nach Belieben
schalten und walten können. Und so wird zehn Jahre nach Brzezinskis
Analysen deutlich, wie sehr sich die Prognosen amerikanischer
Außenpolitik geirrt haben.
Doch dieser Entwicklung trägt Brzezinski in
seinem jüngsten Buch kaum Rechnung. Nach wie vor strebt er eine
NATO-Mitgliedschaft der Ukraine an. Und nach wie vor bewertet er das
russische Bemühen, Einfluss in der Ukraine zu bewahren, als
Imperialismus.[30]
Doch die Ukraine war über 200 Jahre lang mit Russland verbunden. Nahezu
20 Prozent der Ukrainer sind Russen. Hinzu kommen zahlreiche Bürger
gemischter Herkunft. Und schließlich wird in weiten Teilen des Landes
Russisch gesprochen. Doch der zur Zeit Stalins in der Ukraine
aufgewachsene Brzezinski hat auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges in
Washington Karriere gemacht. Daraus resultiert eine negative gedankliche
Fixierung auf Russland. Diese tritt deutlich zu Tage, wenn er die
Ukraine als Kopf Russlands bezeichnet, ohne den „Russland nicht zu
Europa“[31] gehören kann.
Die Politik der maximalen Schwächung
Die Selbstauflösung des Warschauer Paktes war nicht nur eine
einseitige Kapitulation. Es war eine Politik, die die richtigen Schlüsse
aus den internen wirtschaftlichen Schwierigkeiten gezogen hatte. Die
Alternative wäre gewesen, dass russische „Neokonservative“ ihr Heil in
einer verschärften militärischen Konfrontation gesucht hätten. Diese
Möglichkeit erhob kurz ihr Haupt, als am 19.8.1991 eine Gruppe aus der
alten kommunistischen Garde für einige Tage die Macht an sich riss.
Gorbatschows Politik erwies sich jedoch als fähig, aus dem engen
Gedankenkreis geopolitischer Interessen herauszutreten und eine ganz
neue Situation herzustellen.
Es gab mehrere Möglichkeiten, wie der Westen auf die von Michail
Gorbatschow eingeleitete Politik hätte reagieren können. Eine
Möglichkeit wäre gewesen, Russland tatkräftig beim Übergang in das
westliche Gesellschaftsmodell zu helfen. Im Interesse einer gesunden
demokratischen Entwicklung wäre es von Bedeutung gewesen, den
vollkommenen Zusammenbruch der sozialen Sicherheitssysteme – wie er sich
dann ereignete – zu vermeiden. Dies hätte bedeutet, dass man Russland
ausreichend Kredite gewährt und dem Land erlaubt hätte, sich beim
Übergang in den Kapitalismus auch an der damals noch in Deutschland
praktizierten sozialen Marktwirtschaft zu orientieren. Kurz: Man hätte
Gorbatschows gewaltige Vorleistungen in der Friedenspolitik mit einem
Entgegenkommen beantworten müssen. Diese Politik hätte beinhaltet, dass
man Russland nach seiner Abkehr vom Kommunismus als zukünftigen
geopolitischen Akteur ernst genommen hätte, dass man bereit gewesen
wäre, ein demokratisches Russland tatsächlich in die Gestaltung einer
zukünftigen Weltordnung mit einzubeziehen. Die zukünftige
Machtverteilung der dann entstandenen Weltordnung hätte etwa der der
ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats entsprochen. Die USA wären
in dieser Konstellation die mit Abstand bedeutendste, aber
wahrscheinlich nicht die einzige Macht geblieben, und möglicherweise
hätte dies schließlich zu einer fundamentalen Neugestaltung oder gar
Auflösung der NATO geführt.
Doch der Weg, der stattdessen beschritten wurde, war ein gänzlich
anderer. Das Augenmerk der USA richtete sich weniger auf die
Demokratisierung Russlands als vielmehr auf seine Kapitalisierung. Und
zwar nicht im Sinne einer sozialen Marktwirtschaft oder eines halbwegs
erträglichen Übergangs, sondern im Sinne einer neoliberalen
Schocktherapie. Ziel war von Anfang an eine möglichst starke Schwächung
Russlands. Bereits auf dem G7-Gipfel 1991 hatte man von Gorbatschow
gefordert, die Transformation mit wirtschaftlichen Radikalmaßnahmen
zuzulassen. Durch die Erfahrungen in Lateinamerika war bereits bekannt,
dass die damit gemeinte Wirtschaftsreform vor allem zur Etablierung
eines unregulierten Kapitalismus führen würde, der mit enormen
gesellschaftlichen Verwerfungen einhergeht. The Economist
forderte deshalb ganz folgerichtig, dass Gorbatschow sich bei seinen
Reformen an dem chilenischen Diktator Augusto Pinochet orientieren
sollte.[32]
Dieses Beispiel macht deutlich, dass mit der Freiheit, mit der man
Russland beglücken wollte, vor allem die Freiheit des Geldes gemeint
war.
Als die russische Regierung sich kurz nach der Amtseinführung Jelzins
den Ratschlägen der amerikanischen Wirtschaftsberater unter Führung von
Jeffrey Sachs fügte, hielten die USA Russland sogar noch die in
Aussicht gestellten Kredite vor.[33]
Auf diese Weise wurde eines der waghalsigsten wirtschaftlichen
Experimente fast ohne finanzielle Absicherung durchgeführt. Das Resultat
ließ nicht lange auf sich warten. Die Privatisierung von
Staatsbetrieben und die Freigabe der Preise sorgte dafür, dass innerhalb
eines Jahres der Konsum um 40 Prozent sank und ein Drittel der
Bevölkerung unter die Armutsgrenze rutschte. Während viele russische
Bürger sich gezwungen sahen, ihr Hab und Gut auf Marktplätzen zu
verkaufen, die durchschnittliche Lebenserwartung auf 57 Jahre sank,
entstanden zugleich 17 neue Milliardäre. Der russische Staat stürzte in
eine seiner schwersten Krisen. Was folgte, war eine jahrelang anhaltende
Kapitalflucht aus Russland, von der letztlich westliche Anleger
profitierten, während zugleich der russische Staat seinen Beamten keine
Gehälter mehr auszahlen konnte. 1995 fragte das Wall Street Journal
seine Leser, ob sie nach Investitionsmöglichkeiten suchten, die in drei
Jahren 2000 Prozent abwerfen können. „Nur ein Aktienmarkt“, so die
Zeitung, „bietet diese Aussicht – Russland“[34].
Diese enormen Renditen kamen zustande, weil das russische
Staatseigentum zu Schleuderpreisen verkauft wurde. Norilsk Nickel, ein
Konzern, der seinerzeit für ein Fünftel der weltweiten Nickelproduktion
zuständig war, wurde für 170 Millionen Dollar verscherbelt. Kurze Zeit
später sollten die Profite des Unternehmens 1,5 Milliarden Dollar pro
Jahr erreichen. Für den Ölgiganten Yukos, der mehr Öl als der Staat
Kuwait kontrollierte, wurden lediglich 309 Millionen Dollar bezahlt.[35]
Dass der russische Staat jedoch verkaufen musste und notfalls zu
Billigpreisen, dafür war gesorgt. Denn während im Lande die sozialen
Sicherungssysteme zusammenbrachen, wurde Russland von Seiten des Westens
jede ernst gemeinte finanzielle Hilfe vorenthalten.
Die amerikanische Russlandpolitik nach dem Ende des Kalten Krieges
ähnelte in vielerlei Hinsicht der französischen Außenpolitik gegenüber
Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Genau wie Frankreich sich damals
dafür einsetzte, durch hoch veranschlagte Reparationszahlungen und die
später erfolgte Besetzung des Ruhrgebiets eine dauerhafte Schwächung
seines geopolitischen Konkurrenten zu erreichen, wünschten sich die USA
nach dem Ende des Kalten Krieges zwar kein instabiles, aber doch ein
möglichst schwaches Russland. Man wendete die Techniken des bekannten
Schuldenimperialismus an und war vor allem daran interessiert, Russland
in einen billigen und von ausländischem Kapital abhängigen
Rohstoffexporteur zu verwandeln. Einen besonders klaren Ausdruck fand
dieser Grundsatz US-amerikanischer Außenpolitik in Brzezinskis Idee
einer Drei- oder Vierteilung des Landes. Die damals eingeleitete Politik
führte zu der geopolitischen Situation, die sich heute abzeichnet.
Der neue Kalte Krieg – ein Ergebnis der Geographie?
Der Grund für diese politische Entscheidung ist in der geographischen
Lage Russlands zu suchen. In „The Grand Chessboard“ findet sich eine
Karte, auf der Brzezinski das „eurasische Schachbrett“ darstellt. Darin
ist der Kontinent in vier Regionen – oder um bei der Schachmetapher zu
bleiben – in vier Figuren eingeteilt.
Eine Figur auf dem eurasischen Schachbrett steht für Europa etwa in
der Größe der heutigen EU, eine zweite für China einschließlich einiger
angrenzender Staaten, die dritte für den Nahen und Mittleren Osten mit
Teilen Zentralasiens. Doch die mit Abstand größte Figur – die Brzezinski
die mittlere Region nennt – stellt Russland dar. Der geopolitische
Theoretiker Harold Mackinder hatte bereits Anfang des 20. Jahrhunderts
eine ähnliche Einteilung vorgenommen. Darin hatte er das damalige
Russland als „Zentralregion“ bzw. „Herzland“ bezeichnet. Eurasien
wiederum wurde von ihm als „Welteninsel“ bezeichnet. Berühmt geworden
ist folgendes Zitat von Harold Mackinder:
Wer über Osteuropa herrscht, beherrscht das Herzland (Sibirien/Zentralasien),
wer über das Herzland herrscht, beherrscht die Weltinsel (Eurasien),
wer über die Weltinsel herrscht, beherrscht die Welt.
Für Mackinder war vor 100 Jahren noch der Gegensatz zwischen Land-
und Seemacht ein zentrales Reflektionsmoment seiner geopolitischen
Analysen. Heute, im Zeitalter des internationalen Flugverkehrs, hat die
Bedeutung dieses Moments allerdings nachgelassen, was Brzezinski auch
andeutet. Doch in der zentralen Einschätzung Eurasiens als dem
eigentlichen Zentrum der Welt berühren sich Brzezinskis geopolitische
Analysen mit jenen Mackinders. Wie Mackinder im Hinblick auf das
britische Empire sieht auch Brzezinski knapp 100 Jahre später den
Machtkampf um die Vorherrschaft Eurasiens als die Schicksalsfrage jedes
herrschenden Imperiums. Denn auch die USA haben – wie das britische
Empire damals – eine geographische Lage, die eher abseits der so
genannten „Welteninsel“ (Eurasien) angesiedelt ist. Die USA müssen als
nicht-eurasische Nation ihre Weltmachtposition auf einem Kontinent
durchsetzen und verteidigen, auf dem sie nicht zu Hause sind. Sie
könnten somit leichter als andere Staaten aus Eurasien verdrängt werden.
Dies wiederum zwingt die amerikanische Außenpolitik zu einer umso
größeren und gewissermaßen präventiven Einflussnahme auf dem asiatischen
und europäischen Kontinent.
Russland ist somit in den Augen US-amerikanischer Geopolitiker die
zentrale Figur auf dem eurasischen Schachbrett. Die Überwindung der
ideologischen Konkurrenz bedeutete nicht, dass auch die geographische
Rivalität überwunden wurde. Im Gegenteil: Die geographische Lage
Russlands ist aus Sicht der Vereinigten Staaten derart privilegiert,
dass eine präventive Schwächung Russlands ins Auge gefasst wurde.
Die USA sind die größte Macht außerhalb Eurasiens. Wollen sie den
eurasischen Kontinent dominieren, so geraten sie automatisch in einen
Interessenkonflikt mit Russland. Dabei ist Russland weit davon entfernt,
die stärkste Macht auf dem eurasischen Kontinent zu sein.
Wirtschaftlich wird Russland nie mit China und Europa konkurrieren
können. Allerdings ist das Land durch seine geographische Position im
Zentrum der eurasischen Landmasse und seinen Rohstoffreichtum
langfristig in der Lage, eurasische Kooperationen zu begründen. So
könnten etwa vertiefte Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und der
EU letztere in die Lage versetzen, eine transatlantische Orientierung
durch eine kontinentale zu ergänzen. Dies wiederum würde einen
erheblichen Unabhängigkeitsgewinn Europas gegenüber den USA bedeuten.
Für eine zunehmende Ost-Orientierung der EU spricht auch, dass russische
und europäische Interessen langfristig komplementär sind. Von
russischer Seite besteht eine große Nachfrage nach europäischer
Technologie, während es Europa umgekehrt in der Zeit nach Peak Oil
schwer gelingen wird, ohne Russland seine Energieversorgung
sicherzustellen.
In ganz ähnlicher Weise könnte ein Bündnis zwischen Russland und
China, wie es sich bereits in der Shanghai Cooperation Organisation
(SCO) langsam herausbildet, langfristig ein zweites weltwirtschaftliches
Zentrum in Asien begründen. Würde dies geschehen, so wäre es für die
USA zunehmend schwierig, ihren Einfluss im Nahen Osten und Zentralasien
zu wahren. Die Vormachtstellung der USA auf dem eurasischen Kontinent
ist also in mehrfacher Hinsicht bedroht. Und stets kommt Russland dabei
die Rolle eines hochdynamischen Akteurs zu. Da es als einziges Land in
der Lage ist, den Osten und Westen Eurasiens zu verbinden, kann es bei
der Entstehung einer eurasischen Interessengemeinschaft katalytisch
wirken. Verstärkt wird diese Position noch dadurch, dass Russland das
einzige Industrieland ist, das von der durch Peak Oil ausgelösten
Energiekrise zunächst nicht betroffen sein wird.
Die geographisch begründeten Interessengegensätze zwischen Russland
und den USA erklären möglicherweise die amerikanische Russlandpolitik
seit dem Fall der Berliner Mauer. Der neue Kalte Krieg erweist sich
insofern als die Fortsetzung des alten, als dieser nie wirklich
aufgehört hat. Der Kalte Krieg wurde fortgesetzt, weil die USA mit dem
Fall der Berliner Mauer nur eines ihrer beiden geopolitischen Ziele
erreicht haben. Das erste Ziel war zweifellos der Sieg des Kapitalismus
über den Sozialismus. Doch das zweite Ziel – und dies wird erst jetzt
anhand der aktuellen Politik der USA deutlich – war die unangefochtene
Vormachtstellung der USA in Eurasien. Die amerikanischen Eliten
glaubten, dass es ihnen und den USA vorherbestimmt sei, die Welt in eine
post-nationalstaatliche Ordnung zu überführen, und dass zur
Verwirklichung dieses Ziels die Vormachtstellung in Eurasien eine
unabdingbare Voraussetzung sei.
Doch dieser Traum amerikanischer Allmacht, den Brzezinski 1997 wie
selbstverständlich als legitim voraussetzt, ist in den letzten Jahren
zunehmend unrealistisch geworden. Es rückt durch den rasanten Aufstieg
nicht nur Russlands, sondern auch Chinas und Indiens in immer weitere
Ferne. Es mutet absurd an, dass ausgerechnet in einer Zeit, da die so
genannten BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) ein
enormes Wirtschaftswachstum generieren, die NATO erstmals ein weltweites
Gewaltmonopol für sich beansprucht. Brzezinski ging 1997 noch davon
aus, dass die USA für den Zeitraum einer Generation die einzige
wirkliche Weltmacht bleiben könnten. Er sah die USA in einer weltweit
unangefochtenen Schiedsrichterposition. Doch bereits zehn Jahre nach
Brzezinskis außenpolitischer Analyse sind die USA mit der Erschöpfung
ihrer imperialen Kräfte konfrontiert. Wie soll es den USA erst möglich
sein, einen fremden Kontinent gegenüber einem selbstbewussten Russland
und einem erstarkten China zu dominieren. Die napoleonischen Kriege und
der Zweite Weltkrieg sind zudem Beispiele dafür, dass auch schon in der
Vergangenheit alle Versuche, vom Rande Eurasiens in sein Zentrum
vorzustoßen, stets gescheitert sind. Wie werden sich die USA verhalten,
wenn auch sie von diesem Schicksal eingeholt werden?
Zwei mögliche Szenarien zeichnen sich ab
Das hängt davon ab, ob es sich bei den von Brzezinski 1997
formulierten Zielsetzungen um solche handelt, die fallen gelassen werden
können, wenn sie sich als unrealistisch erweisen, oder ob es sich
ganz im Gegenteil um Ziele handelt, die so sehr mit der Identität der
USA, ihren Institutionen und ihren politischen Führungselite verwachsen
sind, dass sie weder relativiert noch aufgegeben werden können.
Geht man vom günstigsten Fall aus, würden die amerikanischen
Geopolitiker erkennen, dass die 1997 von Brzezinski formulierten Ziele
sich als nicht erreichbar erwiesen haben und dass die europäischen
Politiker einsehen, eine Neuauflage dieser Pläne in Gestalt einer
transatlantischen Zusammenarbeit liegt letztlich nicht im europäischen
Interesse. Es ist davon auszugehen, dass der Dollar in den nächsten fünf
Jahren seine Position als vorherrschende Weltwährung einbüßen wird.
Damit aber verlieren die USA auch einen erheblichen Teil ihrer
Seignoragevorteile, die wiederum die finanzielle Basis ihrer enormen
Rüstungsausgaben bilden. Viele der militärischen Basen außerhalb der USA
könnten dann nicht länger finanziert werden. Fortan müssten sich die
USA ihre Weltmachtposition mit eurasischen Konkurrenten wie China,
Russland und Europa teilen. Es wäre gut möglich, dass sie in Folge ihrer
bisherigen Politik in Zentralasien ihren Einfluss in dieser Region
gänzlich verlieren.
Der Verlust der Position als einzige verbliebene Supermacht bedeutet
aber auch, dass die allmähliche Entstehung einer postnationalstaatlichen
Weltordnung nicht mehr in dem Maße von den USA alleine gestaltet werden
kann, wie Brzezinski dies noch 1997 für möglich gehalten hat. Es ist
auch fraglich, ob eine vertiefte transatlantische Kooperation hier eine
Alternative ist. Der grundsätzliche Charakter der Welt im 21.
Jahrhundert kann wahrscheinlich nicht mehr im selben Maße von den USA
oder dem Westen geprägt werden wie in den zurückliegenden Jahrzehnten.
In dem Maße, wie unterschiedliche Kontinente und Kulturkreise sich
hinsichtlich eines übernationales Rahmenwerkes der zukünftigen
geopolitischen Ordnung einig werden müssen, entsteht auch Raum für
alternative Entwürfe. Möglicherweise würde die Vorrangstellung des
Marktes als zentrale Instanz der Vergesellschaftung, die mit der
kulturellen Vorherrschaft der USA sehr eng verflochten ist, erneut
infrage gestellt werden. An die Stelle einer von den USA dirigierten
Globalisierung würde ein Prozess der offenen Aushandlung zwischen
ungefähr gleichstarken Mächten treten. Jedenfalls dürfte es in
absehbarer Zeit keinen Staat geben, der die Welt in ähnlich starker
Weise dominieren könnte, wie dies die USA über einen Zeitraum von mehr
als einem halben Jahrhundert vermochten. In diesem Prozess der offenen
Aushandlung wäre der Westen mit seiner eigenen Außenwahrnehmung
konfrontiert. Die heute noch allgemein akzeptierte Vorstellung vom
„guten Abendland“ würde erheblich ins Wanken geraten, wenn die
Ausbeutung der Dritten Welt, die Praxis des Schuldenimperialismus und
die Unterstützung von Diktaturen einmal Gegenstand einer geschichtlichen
Erinnerung, ja möglicherweise sogar gerichtlichen Aufarbeitung werden
würden.
Doch vielleicht ist genau dies die Zukunftsprognose, gegen die
Brzezinskis Plan einer US-amerikanischen Vorherrschaft in Eurasien
letzten Endes gerichtet ist. Und möglicherweise gilt dies nicht nur für
Brzezinski, sondern für große Teile der amerikanischen Elite. Es ist
nicht auszuschließen, dass der Glaube an die legitime Vorherrschaft der
USA so eng mit dem Identitätsgefühl ihrer Elite verflochten ist, dass
auch ein offensichtliches Scheitern dieser Politik nicht zu einer neuen
Orientierung führt. Einige Gedanken, die Brzezinski in seinem jüngsten
Buch Second Chance formulierte und die den Plan einer
Vorherrschaft über Eurasien durch eine vertiefte
amerikanisch-europäische Zusammenarbeit retten sollen, deuten daraufhin.[36]
Dies scheint der letzte Strohhalm zu sein, nach dem er greift, um den
Gedanken abzuwehren, dass die Vorherrschaft des Westens über ganz
Eurasien weder politisch noch wirtschaftlich und erst recht nicht
militärisch durchsetzbar ist.
Welchen Verlauf würde die Geschichte nehmen, wenn die amerikanischen
und europäischen Geopolitiker – ungeachtet der neuen Machtverteilung –
konsequent an jenem Plan der Vorherrschaft über Eurasien festhalten
würden? In diesem Fall müsste es zu einem Zusammenstoß verschiedener
eurasischer Mächte kommen. Dieser Zusammenstoß könnte sich in Form eines
Kalten oder Heißen Krieges vollziehen. Ein Kalter Krieg wäre verbunden
mit der Dämonisierung des Gegners in der Öffentlichkeit, wie sie sich
gegenüber Russland bereits heute abzeichnet. Außerdem geht mit einem
Kalten Krieg auch immer die Gefahr einer versehentlichen Auslösung eines
militärischen Ernstfalls durch menschliches oder technisches Versagen
einher. Da ein neuer Kalter Krieg sich nicht im Gleichgewicht des
Schreckens, sondern in einer militärischen und technologischen
Asymmetrie vollziehen würde, wäre damit auch die Gefahr einer Auslösung
des Krieges ungleich höher als im ersten Kalten Krieg. So könnten sich
die Inhaber eines Raketenschildes z.B. in falscher Sicherheit wiegen und
den Krieg im Zuge einer diplomatischen Krise auslösen. Umgekehrt könnte
die unterlegene Seite – die über keinen Raketenschild verfügt – den
Krieg präventiv beginnen, sofern sie davon überzeugt ist, dass die
andere Seite dies ohnehin langfristig plant. Der präventive Kriegsbeginn
wäre dann der asymmetrische Ausgleich für das nicht vorhandene
Raketenschild.
Doch ein Zusammenstoß verschiedener eurasischer Akteure könnte sich
auch in Gestalt eines Stellvertreterkrieges ereignen. Ort eines solchen
Zusammenstoßes wären mit hoher Wahrscheinlichkeit die ölreichen Regionen
des Nahen Ostens und Zentralasiens. Wenn die durch Peak Oil
hervorgerufene Energiekrise erst einmal begonnen hat, dürften diese
Regionen endgültig ins Fadenkreuz aller Mächte geraten. Brzezinski nennt
diese Region „den mittleren Raum“ oder auch „den eurasischen Balkan“.
Für ihn ist sie allein auf Grund ihrer geographischen Lage und
unabhängig von ihren Ölvorräten Dreh- und Angelpunkt jeglicher
Vorherrschaft in Eurasien. Die Bezeichnung „eurasischer Balkan“ bezieht
sich auf die starke ethnische Fragmentierung in diesem Gebiet. Die
wichtigsten Ethnien, die sich über die ehemaligen südlichen
Sowjetrepubliken westlich und östlich des Kaspischen Meeres verteilen,
sind Usbeken, Kasachen, Tadschiken, Russen, Ukrainer, Georgier,
Turkmenen und Kirgisen. Die ethnisch homogensten Staaten sind Armenien
und Aserbaidschan, während östlich des Kaspischen Meeres die ethnische
Fragmentierung sehr weit geht. Auch Iran, Afghanistan und Pakistan
weisen viele ethnische Minderheiten auf. Libanon und Irak sind wiederum
in schiitische und sunnitische Bevölkerungsgruppen geteilt.
Aufgrund dieser Situation ist es sehr wahrscheinlich, dass die
geopolitische Konkurrenz verschiedener Mächte in dieser Region ähnlich
ausgetragen werden würde wie einst auf dem europäischen Balkan. Auf dem
Gebiet des ehemaligen Jugoslawien machten sich zu Beginn des 20.
Jahrhunderts Russland, Österreich-Ungarn, Deutschland, Frankreich und
Großbritannien gegenseitig Konkurrenz. Dabei bedienten sich die
Großmächte der in dieser Region vorgefundenen ethnischen Konflikte. Die
Instabilität dieser Region lud ausländische Großmächte dazu ein, durch
Parteibildungen und Einflussnahme ihre Interessen gegeneinander
durchzusetzen. Der europäische Balkan ist ein Beispiel dafür, dass in
ethnisch gemischten Regionen, in denen sich zudem die Einflusssphären
verschiedener Großmächte überschneiden und kreuzen, Bürgerkriege leicht
entfacht werden können.
Auf dem eurasischen Balkan konkurrieren weit mehr Mächte miteinander
als einst auf dem europäischen Balkan. Die wichtigsten Akteure sind
Russland, die USA, die Türkei und der Iran. Überdies ist in den letzten
Jahren der Einfluss Chinas, Indiens, Pakistans und der EU immer
spürbarer geworden. Eine bis zum Äußersten geführte geopolitische
Konkurrenz um Einfluss in dieser Region könnte irgendwann das Feuer des
Bürgerkrieges entfachen. Ansätze hierfür lassen sich bereits heute in
jenen beiden Ländern beobachten, die direkt unter US-amerikanischer
Besetzung stehen, nämlich im Irak und in Afghanistan. Insbesondere im
Irak könnte es zu einem Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten
kommen, wobei die US-amerikanische Besatzungspolitik sich dieser
Entwicklung gegenüber nicht neutral verhält: Sie trennt die
Religionsgruppen in unterschiedlichen Wohnquartieren und Zeltstädten und
erreichtet sogar Mauern zwischen ihnen. Es ist ein bekanntes
soziologisches Phänomen, dass solche Maßnahmen das Misstrauen zwischen
den Bevölkerungsgruppen eher steigern und das religiöse Sektierertum
befördern, als dass sie helfen es einzudämmen. Der US-amerikanische
Journalist Seymour Hersh hat deshalb in diesem Zusammenhang seiner
Regierung die Praxis „ethnischer Säuberungen“[37] vorgeworfen.
Offen ausgetragene ethnische Konflikte im Irak wären in jedem Fall
fatal und könnten leicht auf den ebenfalls in mehrere Völker
fragmentierten Iran übergreifen. Ethnische Konflikte in Afghanistan
könnten sich wiederum nach Pakistan ausdehnen. In diesem Fall wäre davon
auszugehen, dass viele der geopolitischen Akteure in dieser Region in
einem solchen Konflikt nicht neutral bleiben würden. Denn die gesamten
Grenzziehungen in dieser Region – die seit Jahrzehnten Bestand haben –
ständen mit einem Mal in Frage. Ein Wettkampf um zukünftige
Einflusszonen würde ausbrechen. Staaten, die bis dahin wenig Einfluss in
einem Land besessen haben, könnten darauf spekulieren, durch die
Unterstützung einzelner ethnischer oder religiöser Gruppierungen diese
Macht nun zu gewinnen. Die Verlockung, auf diese Weise Interessen
geltend zu machen, wäre umso größer, je reicher die von einer
spezifischen Bevölkerungsgruppe bewohnte Region an Gas- und Ölvorkommen
wäre.
Würde die geopolitische Konkurrenz in der Region zwischen Irak, Iran,
Afghanistan, Pakistan und einigen ehemaligen Sowjetrepubliken sich
tatsächlich zu einer bürgerkriegsähnlichen Situation auswachsen, wären
die menschlichen Verluste kaum abzuschätzen. Denn der eurasische Balkan
erstreckt sich über ein Gebiet, das mehrere hundert Millionen Menschen
umfasst. Der amerikanische Historiker Niall Ferguson hat einem Artikel
in Foreign Affairs mit dem Titel: „The Next War of the World“[38]
sogar die These vertreten, dass ein solch grenzübergreifender
Bürgerkrieg auf dem eurasischen Balkan wahrscheinlich einen neuen
Weltkrieg darstellen würde. Ferguson kommt zu dem Schluss, dass die dann
zu erwartenden Opferzahlen jene des Zweiten Weltkriegs übersteigen
könnten. Die Foreign Affairs werden vom Council on Foreign Relations
herausgegeben. Die Veröffentlichung von Fergusons Artikel in dieser
Zeitschrift zeigt somit, dass der berühmteste außenpolitische Think Tank
der USA einen ausufernden Bürgerkrieg auf dem eurasischen Balkan als
eine Möglichkeit ansieht, mit der zu rechnen ist.
Würde eine mächtige Koalition aus verschiedenen Staaten, ähnlich wie
die NATO 1999 in Jugoslawien, schließlich als „friedensstiftende“ Macht
in einem solchen Konflikt eingreifen, so wäre sie nicht nur in der
Position, die Grenzziehungen des Nahen Ostens und Zentralasiens neu zu
bestimmen. Eine solche Koalition wäre auch in der Lage, direkten
militärischen Einfluss in einem Gebiet auszuüben, das Mackinder einst
als das Herzland Eurasiens und damit letztlich der Welt bezeichnet hat.
Zusätzlich zu dieser geographischen Schlüsselposition gewänne eine
solche Koalition außerdem noch die Kontrolle über einen beträchtlichen
Teil der weltweiten Öl- und Gasvorräte, die ebenfalls in dieser Region
beheimatet sind. Eine solche „friedensstiftende“ Koalition wäre somit
der eigentliche Gewinner in einem solchen Krieg. Sie würde über zwei
bedeutende geopolitische Machthebel zugleich verfügen: zum einen über
die Kontrolle der ölreichsten Region der Welt und zum anderen die
Kontrolle über eine Region, die aus geographischer Sicht den Mittelpunkt
der Welt darstellt – ihr Herzland, wie Mackinder es nannte. Wer auch
immer eine vollständige Macht über den Nahen Osten und Zentralasien
gewinnt, dürfte damit zugleich auch der maßgebliche Hegemon des 21.
Jahrhunderts sein. Wer jedoch eine solche vollständige Kontrolle dieser
Region anstrebt, gerät damit automatisch in einen Interessenskonflikt
mit Russland. Denn Russland beherrscht zurzeit die nördliche Hälfte
dieser Region, die entweder Teil des russischen Staatsgebiets ist oder
aber in die russische Einflusssphäre fällt.
Kriege kündigen sich in der Berichterstattung an
Dass zukünftige geopolitische Konflikte mit Russland möglicherweise
bereits geplant werden, wird nicht nur an dem Streit um den
Raketenschild deutlich. Auch die Darstellung Russlands in der deutschen
und westlichen Presse hat sich innerhalb kurzer Zeit grundlegend
gewandelt. War die Berichterstattung in den neunziger Jahren von der
Erleichterung darüber geprägt, dass der Schrecken des Kalten Krieges und
damit auch die institutionalisierte Feindschaft in der Presse endgültig
vorbei sei, so konnte man in letzter Zeit eine Rückkehr bestimmter
Schemata der Berichterstattung aus der Zeit des Kalten Krieges
beobachten. Sehr auffällig wurde dies in den Monaten, die den russischen
Präsidentschaftswahlen unmittelbar vorausgingen. In der Zeit zwischen
Oktober 2007 und April 2008 übertraf sich die etablierte Presse
gegenseitig mit Meldungen, die Parallelen zwischen dem heutigen Russland
und der ehemaligen Sowjetunion herstellten. Dass sich die russische
Gesellschaft seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion tiefgreifend
geändert, sowie eine Liberalisierung der Lebensweise stattgefunden hat
und eine Rückkehr zu einem diktatorischen Gesellschaftsmodell nicht ohne
weiteres denkbar ist, wird von der deutschen Presse systematisch
ausgeblendet. Hinzu kommt, dass, sobald Interessenskonflikte zwischen
Russland und dem Westen zur Sprache kommen, die russische Sicht der
Dinge kaum erwähnt wird. Statt die wechselseitigen Interessenskonflikte
zu analysieren, wird Russland als ein Land porträtiert, dessen Ansprüche
an den Westen in der Regel überzogen sind und sich nicht begründen
lassen. Russland, so lautet das Fazit, ist mit Drohgebärden auf die
Weltbühne zurückgekehrt.
Dass das Russlandbild der deutschen Öffentlichkeit sich gegenwärtig
tatsächlich wieder dem Tiefpunkt annähert, den es zu Hochzeiten des
Kalten Krieges schon einmal innehatte, macht ein kurzer Blick auf die
Überschriften deutlich, die in den Monaten vor den russischen
Präsidentschaftswahlen in der deutschen Presse zu lesen waren: „Der
‚lupenreine Demokrat’ und seine russische Zuchtanstalt“ (Stern), „Putin
plustert sich auf“ (taz), „Wladimir Putin raubt Russland die Freiheit"
(Welt), „Russlands Neonazis: schon Kinder heben die Hand zum
Hitler-Gruß“ (Spiegel), usw. Immer wieder erscheinen Artikel, die
Russland in die Nähe zur einstigen Sowjetunion rücken. So unterstellte
die Süddeutsche Zeitung Putin ein Geschichtsbild, das „Nein zu Jelzin
(und) Ja zu Stalin“ sagt. Dass der russische Präsident einige Monate
später eine Gedenkstätte für Stalin-Opfer besuchte und dabei den
stalinistischen Terror als eine „Tragödie für Russland“[39]
bezeichnete, wurde dagegen von der SZ nicht berichtet. Ganz ähnlich
verfährt die von der Bremer Forschungsstelle für Osteuropa
herausgegebene Zeitschrift „Russlandanalysen“. In ihrer Dezemberausgabe
des Jahres 2007 wurde sogar ein Bezug zur deutschen Vergangenheit
hergestellt. Die Zeitung kommt zu dem Schluss, dass sich Russland „am Rande des Faschismus“ befindet. Angesichts der „Putin-Bewegung“, so Heinrich Vogel, der zwischen 1972–76 das Osteuropa-Institut in München geleitet hat, falle es schwer, „Erinnerungen
an die Propaganda der Nationalsozialisten beim Referendum nach dem
Anschluss in Österreich im Jahr 1938 mit ihrem Motto ‚Dein Ja zum
Führer’ zu unterdrücken. Die Techniken faschistischer Massenmanipulation
und Mobilisierung haben sich nicht verändert, und ihre Eigendynamik
sollte nicht unterschätzt werden.“[40]
Sofern diese Pressedarstellungen ein Gradmesser für den Zustand der
russisch-deutschen Beziehungen sind, scheinen sich diese im
zurückliegenden Jahr in atemberaubendem Tempo verschlechtert zu haben.
Das ist umso außergewöhnlicher, da mit Wladimir Putin ein erklärtermaßen
deutschlandfreundlicher Politiker im Kreml regiert. In der Tat waren
die russischen Bemühungen um eine Aussöhnung mit Deutschland in Putins
Amtszeit so intensiv wie sonst vielleicht nur noch unter der
Regentschaft Michail Gorbatschows. Doch die historischen Möglichkeiten
einer Annäherung an Russland wurden in der deutschen Presse nie
ausgelotet, geschweige denn thematisiert. Das Freundlichste, was sich
über die aktuelle Russland-Berichterstattung in der deutschen Presse
sagen kann, ist, dass diese extrem einseitig ist, die Komplexität der
Verhältnisse unberücksichtigt lässt und positive Nachrichten über
Russland systematisch ignoriert. Möglicherweise ist dieses Urteil sogar
noch zu freundlich formuliert. Der ehemalige Präsident Michail
Gorbatschow sprach Anfang des Jahres in einem offenen Brief an die
deutschen Journalisten sogar von einer Pressekampagne, die deutsche
Medien gegenüber seinem Land veranstalten würden und von der er sich als
ehemaliger Präsident und Wegbereiter der deutschen Wiedervereinigung
persönlich getroffen fühle.[41]
Und der amerikanische Politiker Paul Craig Roberts, einst
Vizefinanzminister unter Ronald Reagan und heute führender Kritiker
neokonservativer Regierungspolitik, sprach im März dieses Jahres
angesichts der aktuellen Berichterstattung über Russland sogar von
Techniken psychologischer Kriegsführung.[42]
Europa steht vor einer Grundsatzentscheidung
Die Grundsatzentscheidung darüber, welchen weiteren Verlauf die
Geschichte im 21. Jahrhundert nehmen wird, liegt wahrscheinlich weder
bei den USA noch bei Russland. Die Interessen sowohl Russlands als auch
der USA sind zu eindeutig und programmatisch festgelegt, als dass beide
Staaten sich ernsthaft zwischen grundsätzlich verschiedenen Alternativen
entscheiden könnten. Russland würde sein Interesse, die ehemaligen
Sowjetrepubliken als seine natürliche Einflusszone anzusehen,
wahrscheinlich nie fallen lassen. Umgekehrt scheinen die USA nicht
gewillt zu sein, ihre Vorherrschaft auf dem eurasischen Kontinent
kampflos aufzugeben. Die Entscheidung in diesem „Great Game“ liegt
deshalb bei einem geopolitischen Akteur, der für die USA auf der einen
Seite ein unverzichtbarer Partner ist, dessen eigene Interessenlage von
der US-amerikanischen jedoch in wichtigen Punkten abweicht und der von
verschiedenen Entwicklungsmöglichkeiten profitieren könnte, also
wirklich vor einer Wahl steht.
Die einzige geopolitische Macht, auf welche diese Beschreibung
zutrifft, ist Europa. Das von Brzezinski vorgelegte geopolitische
Konzept amerikanischer Vorherrschaft im 21. Jahrhundert erweist sich in
jeglicher Hinsicht abhängig von europäischer Kooperation. Ohne eine von
der EU unterstützte Osterweiterung der NATO erwiese sich der Plan, ein
von den USA dominiertes transeurasisches Sicherheitssystem zu schaffen,
als unrealistisch. Auch die militärische Aufrüstung der USA gegenüber
Russland wäre problematisch, wenn europäische Staaten eine Beteiligung
am Raketenschild verweigern würden. Schließlich müssten US-amerikanische
Rüstungsanstrengungen auch in anderen Bereichen schnell an Grenzen
stoßen, wenn diese auch nur in Teilen der EU öffentlich kritisieren
würden. Weder der Einsatz von Uranmunition im Irak und Afghanistan mit
seinen katastrophalen Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung noch die
Entwicklung von Atomwaffen mit geringer Sprengkraft noch die Entwicklung
weltraumgestützter Waffensysteme wäre ohne die schweigende Tolerierung
durch die EU-Staaten möglich.
Seiner eigenen geopolitischen Lage nach kann Europa sowohl
atlantische als auch eurasische Kooperationen eingehen. Eine Politik,
die sich sowohl nach Westen als auch nach Osten orientieren würde, wäre
den europäischen Interessen am ehesten zuträglich. Eine solche
Ostorientierung der EU versuchen die USA zu verhindern. Möglicherweise
spekulieren sie darauf, dass die Installation eines Raketenschildes in
Osteuropa russische Reaktionen nach sich zieht. Die dadurch erzeugte
Verschlechterung der russisch-europäischen Beziehungen könnte dann das
Bedrohungsszenario erzeugen, das die USA brauchen, um Europa auf eine
transatlantische Orientierung festzulegen.
Doch anders als der amerikanische ist der europäische Kontinent in
zwei Weltkriegen verwüstet worden. Aus dieser Erfahrung resultiert eine
Verantwortung Europas gegenüber der Welt, seine Entscheidungen mit dem
sicheren Gespür zu treffen, wann Machtpolitik in Selbstzerstörung
umschlägt. Europa ist den Weg, der direkt in die Barbarei führt, zweimal
gegangen und sollte in der Lage sein, die Zeichen frühzeitig zu
erkennen, mit denen sich die abschüssige Bahn der Katastrophenpolitik
ankündigt. Kriegslüsterne Eroberungsträume sollten europäischen
Politikern deshalb fremd sein. Sie wirken in der heutigen Welt ohnehin
anachronistisch. Ein neues nukleares Wettrüsten auf europäischem Boden
darf nicht zugelassen werden! Amerikanische Träume, in denen die USA in
der Rolle eines zweiten Roms gesehen werden[43],
sind der kulturellen Entwicklung des heutigen Menschen nicht mehr
angemessen. Sollte Brüssel nicht in der Lage sein, den Regierungen
Polens und Tschechiens die Stationierung US-amerikanischer Radar- und
Raketenabschussanlagen auszureden, so stellt sich die Frage, welchen
politischen Sinn und Zweck die Europäische Union eigentlich noch hat. Im
Übrigen ist die kulturelle Ausstrahlung Europas stark genug, und die EU
verfügt zudem über genügend wirtschaftliche Druckmittel, um die
politische und gesellschaftliche Entwicklung in Russland in ihrem Sinne
zu beeinflussen. Voraussetzung ist natürlich, dass man die Legitimität
russischer Interessen anerkennt. Und schließlich ist Angst vor Russland
auch faktisch ganz unangebracht. Die Erholung und Stabilisierung des
Landes bedeutet noch lange nicht, dass Russland allzu bald eine
Weltmacht werden wird. Dazu ist die ethnische Fragmentierung in seinen
südlichen und östlichen Provinzen zu groß. Die Größe des Landes stellt
auch ein Eigengewicht dar, das Kräfte bindet und außenpolitischen
Abenteuern eher im Wege steht. Und auch ein wirtschaftlich erholtes
Russland wird immer noch deutlich schwächer sein als die
Wirtschaftsräume Chinas und Europas. Nichtsdestotrotz liegen die
zukünftigen wirtschaftlichen Wachstumsräume in Russland, Indien und
China, und es wäre daher ein Selbstverrat europäischer Interessen, wenn
die EU sich an dem von den USA geplanten neuen Kalten Krieg beteiligt
und es zulässt, dass ein neuer eiserner Vorhang Europa von Asien trennt.
Auch in anderen Bereichen ist es erforderlich, dass die Europäische
Union den USA selbstbewusst entgegentritt. Wie alle Industrienationen
sind auch europäische Staaten an einem günstigen Zugang zu den
Ölvorräten im Nahen und Mittleren Osten interessiert. Dies gilt
insbesondere vor dem Hintergrund von Peak Oil. Die USA tragen erhebliche
Mitverantwortung dafür, dass präventive Maßnahmen zur Bewältigung der
kommenden Energiekrise bislang kaum ergriffen worden sind. Versuchen,
die zukünftige Energieknappheit vorzugsweise militärisch zu lösen,
sollte Europa eine klare Absage erteilen. Der Irak ist ein Beispiel
dafür, dass eine militärische „Lösung“ auch gar nicht möglich ist. Es
wäre deshalb dringend nötig, eine internationale Konferenz zu dem Thema
einzuberufen und international abgestimmte Strategien zu entwerfen, die
auch Länder wie Russland, China und Indien als gleichberechtigte Partner
mit einbeziehen.
Brzezinskis geopolitische Analysen besitzen eine Eigenlogik mit hoher
Überzeugungskraft. Doch dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass
ihre Prämissen falsch sind. Eurasien als Schachbrett zu betrachten, ist
auf den ersten Blick eine originelle Idee. Doch wie so viele Ideen, die
Geschichtsmächtigkeit beansprucht haben, erweist sie sich bei genauerer
Betrachtung als geistig leer und politisch verheerend. Die Welt ist im
21. Jahrhundert sehr klein und zerbrechlich geworden. Geopolitische
Machtspiele, mit denen die Logik eines Schachspiels auf Kontinente
übertragen wird, können dieser neuen Situation nicht gerecht werden. Es
ist daher erforderlich, die geopolitische Logik an sich zu relativieren
und in Zweifel zu ziehen. Statt den geopolitischen Machtkampf bis zum
Äußersten zu treiben, käme es darauf an, der geopolitischen Denkweise
eine Logik der Zivilisation entgegenzustellen. Viel wichtiger als die
Frage, ob das 21. Jahrhundert ein amerikanisches, europäisches oder
chinesisches sein wird, ist die Frage, auf welchen Prämissen wir im 21.
Jahrhundert das Leben der menschlichen Gattung begründen wollen. Die USA
haben mit Guantánamo und der Grünen Zone in Bagdad ihre Vorschläge
bereits eingereicht. Nun ist Europa am Zuge. Europa hat die Kraft und
die Möglichkeit, die US-amerikanischen Welteroberungspläne zu begraben.
Und Europa sollte dies im Interesse der Zivilisation auch tun.
Der Artikel erschien in gekürzter Fassung in „Blätter für deutsche und internationale Politik“, Heft 7, 2008.
[1] Zbigniew Brzezinski, Second Chance, New York 2007, S. 39
[2] Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht - Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Berlin 1997, S. 307
[5] Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht - Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Berlin 1997, S. 64
[13] Rede von Wladimir Putin auf der Konferenz für Sicherheitspolitik in München am 10. 02. 2007, Was ist aus den Garantien geworden?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, März 2007, S. 374
[14] Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht - Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Berlin 1997, S. 307
[18] Rede von Wladimir Putin auf der Konferenz für Sicherheitspolitik in München am 10. 02. 2007, Was ist aus den Garantien geworden?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, März 2007, S. 374
[19] Wolfgang Metzner, Uli Hauser, Uran-Munition: Der Fluch des Krieges, Stern, 20.03.2003
[20] Keir A. Lieber, Darley G. Press, The Rise of U.S. Nuclear Primacy, Foreign Affairs, April/Mai 2006, S. 42 - 54
[21] Elmar Getto, Sind Mini-Nukes harmlos?, in: Journalismus – Nachrichen von heute (oraclesyndicate.twoday.net/), 1. März 2006
[22] Eine Information der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e. V., Die
Bedrohung der Zivilbevölkerung durch erdeindringende Atomwaffen
geringer Sprengkraft - Nukleare “Bunkerknacker” und ihre medizinischen
Folgen, in: IPPNW akzente, März 2003
[23] Seymour M. Hersh, The Iran Plans, The New Yorker, 17. April 2006
[24] Wladimir Putin, Im Wortlaut: Was Wladimir Putin am 4. Juni 2007 wirklich sagte, in: TLAXCALA (http://www.tlaxcala.es/pp.asp?reference=3497&lg=de)
[25] Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht - Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Berlin 1997, S. 142 ff.
[29] Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht - Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Berlin 1997, S. 180
[30] Vgl.: Zbigniew Brzezinski, Second Chance, New York 2007, S. 189
[31] Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Berlin 1997, S. 178
[32] „Order, Order: Can Mikhail Gorbachev deliver the Soviet Union from chaos without restoring centralised autocracy?“ The Economist, 22. Dezember 1990
[33] Naomi Klein, Russland und die neuen Flegeljahre des freien Marktes, in: Die Schock-Strategie, Frankfurt a. Main 2007 S. 349 - 354
[34] E.S. Browning, Bond Investors Gamble on Russian Stocks, Wall Street Journal, 24. März 1995
[35] Naomi Klein, Russland wählt die ’Pinochet-Option’, in: Die Schock-Strategie , Frankfurt a. M. 2007, S.323
[36] Vgl.: Zbigniew Brzezinski, Second Chance, New York 2007, S. 186 - 188
[37] „Doch in meinen Augen ist „the surge“ lediglich ein anderer Ausdruck für „ethnische Säuberungen“. Seymour Hersh, Die Brüchigkeit der Demokratie, Blätter für deutsche und internationale Politik, November 2007, S.1364
[38] Niall Ferguson, The Next War of the World, Foreign Affairs, 11. September 2006
[39]
„Die Periode der Repression stelle eine besondere Tragödie für Russland
dar. Das Ausmaß sei kolossal gewesen, die nationale Elite sei zerstört
worden.“ Putin besucht Gedenkstätte für Stalin-Opfer, NZZ 31.10.2007
[40] Heinrich Vogel, Machtwechsel als Hütchenspiel, Russlandanalysen, Nr. 154, 21.12. 2007, S. 4
[41] Michail Gorbatschow, Offener Brief von Michail Gorbatschow, Russland.ru – Die Internetzeitung, 26.03. 2008
[42] Paul Craig Roberts, Secret Schemes and Undeclared Agendas, Counterpunch, 24.03.2008
[43] Vgl.: Anne Norton, Leo Strauss and the Politics of American Empire, New Haven 2004
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