Freitag, 27. Juli 2007

Was war Aufklärung vor 225 Jahren ?

Beantwortung der Frage : Was ist Aufklärung ?
Immanuel Kant
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus
seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.
Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines
Verstandes ohne Leitung eines anderen zu
bedienen.
Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die
Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes,
sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich
seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen.
Sapere aude !
Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu
bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.
Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein
so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur
längst von fremder Leitung frei gesprochen
(naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens
unmündig bleiben, und warum es anderen so
leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen.
Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein
Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger,
der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich
die Diät beurteilt, u. s. w. : so brauche ich mich ja
nicht selbst zu bemühen.
Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur
bezahlen kann ; andere werden das verdrießliche
Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei
weitem größte Teil der Menschen (darunter das
ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit,
außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr
gefährlich halte, dafür sorgen schon jene Vormünder,
die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich
genommen haben.
Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht
haben, und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen
Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen,
darin sie sie einsperreten, wagen durften, so zeigen
sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn
sie es versuchen, allein zu gehen.
Nun ist die Gefahr zwar eben so groß nicht, denn
sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen
lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch
schüchtern, und schreckt gemeiniglich von allen
ferneren Versuchen ab.
Es ist also für jeden Menschen schwer, sich aus der
ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit
herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen,
und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines
eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn
niemals den Versuch davon machen ließ.
Satzungen und Formeln, diese mechanischen
Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder
vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind die
Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit.
Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den
schmalesten Graben einen nur unsicheren Spring tun,
weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt
ist. Daher gibt es nur wenige, denen es gelungen ist,
durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der
Unmündigkeit heraus zu wickeln, und dennoch einen
sicheren Gang zu tun.
Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher
möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt,
beinahe unausbleiblich.
Denn da werden sich immer einige Selbstdenkende,
sogar unter den eingesetzten Vormündern des großen
Haufens, finden, welche, nachdem sie das Joch der
Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geist
einer vernünftigen Schätzung des eigenen Werts und
des Berufs jedes Menschen, selbst zu denken, um
sich verbreiten werden.
Besonders ist hiebei: daß das Publikum, welches zuvor von
ihnen unter dieses Joch gebracht worden, sie hernach selbst
zwingt, darunter zu bleiben, wenn es von einigen seiner
Vormünder, die selbst aller Aufklärung unfähig sind, dazu
aufgewiegelt worden; so schädlich ist es, Vorurteile zu
pflanzen, weil sie sich zuletzt an denen selbst rächen,
die, oder deren Vorgänger, ihre Urheber gewesen sind.
Daher kann ein Publikum nur langsam zur Aufklärung
gelangen. Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein
Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger
oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre
Reform der Denkungsart zu Stande kommen,
sondern neue Voruteile werden, eben, sowohl als die alten,
zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens
dienen.
Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als
Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem,
was nur Freiheit heißen mag, nämlich die : von seiner
Vernunft in allen Stücken öffentlichen
Gebrauch zu machen.
Nun höre ich aber von allen Seiten rufen:
Räsonniert nicht.
Der Offizier sagt : räsonniert nicht, sondern exerziert!
Der Finanzrat : räsonniert nicht, sondern bezahlt !
Der Geistliche : räsonniert nicht, sondern glaubt !
Nur ein einziger Herr in
der Welt sagt: räsonniert, so viel ihr wollt
und worüber ihr wollt; aber GEHORCHT.
Hier ist überall Einschränkung der Freiheit. Welche
Einschränkung aber ist der Aufklärung hinderlich ?
Welche nicht, sondern ihr wohl gar beförderlich ?
Ich antworte : der öffentliche Gebrauch seiner
Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann
Aufklärung unter Menschen zu Stande bringen;
der Privatgebrauch derselben aber darf
öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum
den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern.
Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche
seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand
als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum
der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne
ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm
anvertrauten bürgerlichen Posten, oder
Amte von seiner Vernunft machen darf.
Nun ist zu manchen Geschäften, die in das Interesse
des gemeinen Wesens laufen, ein gewisser Mechanism
notwendig, vermittelst dessen einige Glieder des
gemeinen Wesens sich bloß passiv verhalten müssen,
um durch eine künstliche Einhelligkeit von der
Regierung zu öffentlichen Zwecken gerichtet, oder
wenigstens von der Zerstörung dieser Zwecke
abgehalten zu werden.
Hier ist es nun freilich nicht erlaubt, zu räsonnieren;
Sondern man muß gehorchen. So fern sich aber dieser
Teil der Maschine zugleich als Glied eins ganzen
gemeinen Wesens, ja sogar der Weltbürgergesellschaft
ansieht, mithin in der Qualität eines Gelehrten, der sich
an ein Publikum im eigentlichen Verstande durch
Schriften wendet: kann er allerdings räsonnieren, ohne
daß dadurch die Geschäfte leiden, zu denen er zum
Teile als passives Glied angesetzt ist. So würde es sehr
verderblich sein, wenn ein Offizier, dem von seinen
Oberen etwas anbefohlen wird, im Dienste über die
Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit dieses Befehls laut
vernünfteln wollte; er muß gehorchen.
Es kann ihm aber billigemaßen nicht verwehrt werden,
als Gelehrter, über die Fehler im Kriegesdienste
Anmerkungen zu machen, und diese seinem Publikum
zur Beurteilung vorzulegen. Der Bürger kann sich nicht
weigern, die ihm auferlegten Abgaben zu leisten; sogar
kann ein vorwitziger Tadel solcher Auflagen, wenn sie
von ihm geleistet werden sollen, als ein Skandal
(das allgemeine Wiedersetzlichkeiten veranlassen
könnte) bestraft werden. Eben derselbe handelt
demohngeachtet der Pflicht einer Bürgers nicht
entgegen, wenn er, als Gelehrter, wider die
Unschicklichkeit oder auch Ungerechtigkeit
solcher Ausschreibungen öffentlich seine
Gedanken äußert.
Eben so ist ein Geistlicher verbunden, seinen
Katechismusschülern und seiner Gemeine nach dem
Symbol der Kirche, der er dient, seinen Vortrag zu tun;
denn er ist auf diese Bedingung angenommen worden.
Aber als Gelehrter hat er volle Freiheit, ja sogar den
Beruf dazu, alle seine sorgfältig geprüften und
wohlmeinenden Gedanken über das Fehlerhafte in
enem Symbol, und Vorschläge wegen besserer
Einrichtung des Religions- und Kirchenwesens,
dem Publikum mitzuteilen.
Es ist hiebei auch nichts, was dem Gewissen zur Last
gelegt werden könnte. Denn was er zu Folge seines
Amts, als Geschäftträger der Kirche, lehrt, das stellt
er als etwas vor, in Ansehung dessen er nicht freie
Gewalt hat, nach eigenem Gutdünken zu lehren,
sondern das er nach Vorschrift und im Namen eines
andern vorzutragen angestellt ist.
Er wird sagen: unsere Kirche lehrt dieses oder jenes;
das sind die Beweisgründe, deren sie sich bedient. Er
zieht alsdann allen praktischen Nutzen für seine
Gemeinde aus Satzungen, die er selbst nicht mit voller
Überzeugung unterschreiben würde, zu deren Vortrag er
sich gleichwohl anheischig machen kann, weil es doch
nicht ganz unmöglich ist, daß darin Wahrheit verborgen
läge, auf alle Fälle aber wenigstens doch nichts der
innern Religion Widersprechendes darin angetroffen wird.
Denn glaubte er das letztere darin zu finden, so würde
er sein Amt mit Gewissen nicht verwalten können;
er müßte es niederlegen.
Der Gebrauch also, den ein angestellter Lehrer von
seiner Vernunft vor seiner Gemeinde macht, ist bloß
ein Privatgebrauch; weil diese immer nur
eine häusliche, obzwar noch so große, Versammlung
ist; und in Ansehung dessen ist er, als Priester,
nicht frei, und darf es auch nicht sein, weil er einen
fremden Auftrag ausrichtet. Dagegen als Gelehrter,
der durch Schriften zum eigentlichen Publikum, nämlich
der Welt, spricht, mithin der Geistliche im
öffentlichen Gebrauche seiner Vernunft,
genießt einer uneingeschränkten Freiheit, sich seiner
eigenen Vernunft zu bedienen und in seiner eigenen
Person zu sprechen.
Denn daß die Vormünder des Volks (in geistlichen
Dingen) selbst wieder unmündig sein sollen, ist eine
Ungereimtheit, die auf Verewigung der Ungereimtheiten
hinausläuft.
Aber sollte nicht eine Gesellschaft von Geistlichen,
etwa eine Kirchenversammlung, oder eine ehrwürdige
Classis (wie sie sich unter den Holländern selbst nennt)
berechtigt sein, sich eidlich unter einander auf ein
gewisses unveränderliches Symbol zu verpflichten, um
so eine unaufhörliche Obervormundschaft über jedes
ihrer Glieder und vermittelst ihrer über das Volk zu
führen, und diese so gar zu verewigen ?
Ich sage: das ist ganz unmöglich. Ein solcher Kontrakt,
der auf immer alle weitere Aufklärung vom
Menschengeschlechte abzuhalten geschlossen würde,
ist schlechterdings null und nichtig; und sollte er auch
durch die oberste Gewalt, durch Reichstäge und die
feierlichsten Friedensschlüsse bestätigt sein.
Ein Zeitalter kann sich nicht verbünden und darauf
verschwören, das folgende in einen Zustand zu setzen,
darin es ihm unmöglich werden muß, seine
(vornehmlich so sehr angelegentliche) Erkenntnisse
zu erweitern, von Irrtümern zu reinigen, und überhaupt
in der Aufklärung weiter zu schreiten.
Das wäre ein Verbrechen wider die menschliche Natur,
deren ursprüngliche Bestimmung gerade in diesem
Fortschreiten besteht ; und die Nachkommen sind
also vollkommen dazu berechtigt, jene Beschlüsse,
als unbefugter und frevelhafter Weise genommen,
zu verwerfen.
Der Probierstein alles dessen, was über ein Volk als
Gesetz beschlossen werden kann, liegt in der Frage:
ob ein Volk sich selbst wohl ein solches Gesetz
auferlegen könnte ?
Nun wäre dieses wohl, gleichsam in der Erwartung
eines bessern, auf eine bestimmte kurze Zeit möglich,
um eine gewisse Ordnung einzuführen; indem man
es zugleich jedem der Bürger, vornehmlich dem
Geistlichen, frei ließe, in der Qualität eines Gelehrten
öffentlich, d. i. durch Schriften, über das Fehlerhafte
der dermaligen Einrichtung seine Anmerkungen
zu machen, indessen die eingeführte Ordnung
noch immer fortdauerte, bis die Einsicht in die
Beschaffenheit dieser Sachen öffentlich so weit
gekommen und bewähret worden, daß sie durch
Vereinigung ihrer Stimmen (wenn gleich
nicht aller) einen Vorschlag vor den Thron bringen
könnte, um diejenigen Gemeinden in Schutz zu
nehmen, die sich etwa nach ihren Begriffen der
besseren Einsicht zu einer veränderten
Religionseinrichtung geeinigt hätten, ohne
doch diejenigen zu hindern, die es beim Alten wollten
bewenden lassen.
Aber auf eine beharrliche, von niemanden öffentlich zu
bezweifelnde Religionsverfassung, auch nur binnen der
Lebensdauer eines Menschen, sich zu einigen, und dadurch
einen Zeitraum in dem Fortgange der Menschheit zur
Verbesserung gleichsam zu vernichten, und fruchtlos,
dadurch aber wohl gar der Nachkommenschaft nachteilig,
zu machen, ist schlechterdings unerlaubt.
Ein Mensch kann zwar für seine Person, und auch alsdann
nur auf einige Zeit, in dem, was ihm zu wissen obliegt,
die Aufklärung aufschieben; aber auf sie Verzicht zu tun,
es sei für seine Person, mehr aber noch für die
Nachkommenschaft, heißt die heiligen Rechte der
Menschheit verletzen und mit Füßen treten.
Was aber nicht einmal ein Volk über sich selbst beschließen
darf, das darf noch weniger ein Monarch über das Volk
beschließen; denn sein gesetzgebendes Ansehen beruht
eben darauf, daß er den gesamten Volkswillen in dem
seinigen vereinigt.
Wenn er nur darauf sieht, daß alle wahre oder
vermeinte Verbesserung mit der bürgerlichen Ordnung
zusammen bestehe: so kann er seine Untertanen
übrigens nur selbst machen lassen, was sie um ihres
Seelenheils willen zu tun nötig finden; das geht ihn
nichts an, wohl aber zu verhüten, daß nicht einer
den andern gewalttätig hindere, an der Bestimmung
und Beförderung desselben nach allem seinen Vermögen
zu arbeiten. Es tut selbst seiner Majestät Abbruch,
wenn er sich hierin mischt, indem er die Schriften, wodurch
seine Untertanen ihre Einsichten ins reine zu bringen
suchen, seiner Regierungsaufsicht würdigt, sowohl wenn
er dieses aus eigener höchsten Einsicht tut, wo er sich
dem Vorwurfe aussetzt : Caesar non est supra grammaticos
als auch und noch weit mehr, wenn er seine oberste Gewalt
so weit erniedrigt, den geistlichen Despotism einiger
Tyrannen in seinem Staate gegen seine übrigen
Untertanen zu unterstützen.
Wenn denn nun gefragt wird : Leben wir jetzt in einem
aufgeklärten Zeitalter ? so ist die Antwort:
Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.
Daß die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, im
ganzen genommen, schon im Stande wären, oder darin
auch nur gesetzt werden könnten, in Religionsdingen sich
ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines andern sicher
und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel.
Allein, daß jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird, sich
dahin frei zu bearbeiten, und die Hindernisse der
allgemeinen Aufklärung, oder des Ausgangs aus ihrer
selbst verschuldeten Unmündigkeit, allmählich weniger
werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen.
In diesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeitalter der
Aufklärung, oder das Jahrhundert F r i e d e r i c h s.
Ein Fürst, der es seiner nicht unwürdig findet, zu sagen:
daß er es für Pflicht halte, in Religionsdingen den
Menschen nichts vorzuschreiben, sondern ihnen darin
volle Freiheit zu lassen, der also selbst den hochmütigen
Namen der Toleranz von sich ablehnt: ist selbst
aufgeklärt, und verdient von der dankbaren Welt und
Nachwelt als derjenige gepriesen zu werden, der zuerst
das menschliche Geschlecht der Unmündigkeit, wenigstens
von Seiten der Regierung, entschlug, und jedem frei ließ,
sich in allem, was Gewissensangelegenheit ist, seiner
eigenen Vernunft zu bedienen.
Unter ihm dürfen verehrungswürdige Geistliche,
unbeschadet ihrer Amtspflicht, ihre vom angenommenen
Symbol hier oder da abweichenden Urteile und Einsichten,
in der Qualität der Gelehrten, frei und öffentlich der Welt
zur Prüfung darlegen ; noch mehr aber jeder andere,
der durch keine Amtspflicht eingeschränkt ist.
Dieser Geist der Freiheit breitet sich auch außerhalb aus,
selbst da, wo er mit äußeren Hindernissen einer sich
selbst mißverstehenden Regierung zu ringen hat.
Denn es leuchtet dieser doch ein Beispiel vor, daß bei
Freiheit, für die öffentliche Ruhe und Einigkeit des
gemeinen Wesens nicht das mindeste zu besorgen sei.
Die Menschen arbeiten sich von selbst nach und nach
aus der Rohigkeit heraus, wenn man nur nicht absichtlich
künstelt, um sie darin zu erhalten.
Ich habe den Hauptpunkt der Aufklärung, die des
Ausganges der Menschen aus ihrer selbst verschuldeten
Unmündigkeit, vorzüglich in Religionssachen
gesetzt: weil in Ansehung der Künste und Wissenschaften
unsere Beherrscher kein Interesse haben, den Vormund
über ihre Untertanen zu spielen; über dem auch jene
Unmündigkeit, so wie die schädlichste, also auch die
entehrendste unter allen ist.
Aber die Denkungsart eines Staatsoberhaupts, der
die erstere begünstigt, geht noch weiter, und sieht ein:
daß selbst in Ansehung seiner Gesetzgebung
es ohne Gefahr sei, seinen Untertanen zu erlauben,
von ihrer eigenen Vernunft öffentlichen Gebrauch
zu machen, und ihre Gedanken über eine bessere
Abfassung derselben, sogar mit einer freimütigen Kritik
der schon gegebenen, der Welt öffentlich vorzulegen;
davon wir ein glänzendes Beispiel haben, wodurch noch
kein Monarch demjenigen vorging, welchen wir verehren.
Aber auch nur derjenige, der, selbst aufgeklärt, sich nicht
vor Schatten fürchtet, zugleich aber ein wohldiszipliniertes
zahlreiches Heer zum Bürgen der öffentlichen Ruhe zur
Hand hat, - kann das sagen, was ein Freistaat nicht wagen
darf : Räsonniert, soviel ihr wollt, und worüber ihr wollt,
NUR GEHORCHT.
So zeigt sich hier ein befremdlicher nicht erwarteter
Gang menschlicher Dinge ; so wie auch sonst, wenn
man ihn im großen betrachtet, darin fast alles paradox ist.
Ein größerer Grad bürgerlicher Freiheit scheint der Freiheit
des Geistes des Volks vorteilhaft, und setzt ihr
doch unübersteigliche Schranken ; ein Grad weniger
von jener verschafft hingegen diesem Raum, sich nach
allem seinen Vermögen auszubreiten. Wenn denn die
Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sie
am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf
zum freien Denken, ausgewickelt hat : so wirkt
dieser allmählich zurück auf die Sinnesart des Volks
(wodurch dieses der Freiheit zu handeln
nach und nach fähiger wird), und endlich auch sogar auf
die Grundsätze der Regierung, die es ihr selbst
zuträglich findet, den Menschen, der nun
mehr als Maschine ist,
seiner Würde gemäß zu behandeln.
Königsberg in Preußen, den 30. Septemb. 1784.
I. K a n t.

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