Frankfurter Rundschau - 30. Okt. 2006
Es kann keine islamischen Menschenrechte geben. Menschenrecht sind universal. Sie lassen sich durch nichts einschränken. Deswegen kann es keine spezielle islamische Interpretation geben. Denn diese Religion ordnet alles der Scharia, der Rechtslehre des Islam, unter und setzt somit die Universalität der Menschenrechte außer Kraft ... Von Egon Flaig
Mich interessiert jetzt nicht die außerordentlich spirituelle Theologie des Islam, sein radikaler Monotheismus mit der reinsten Transzendenz: ohne Trinität, ohne Opfertod, ohne Heilige. Das bewundere ich; und es fasziniert mich. Aber genau darum geht es nicht. Sondern es geht um die Juridifizierung der sozialen und politischen Ordnung, um die Scharia.
Dass die Scharia selber historischen Modifikationen unterliegt, ist selbstverständlich. Aber die vier islamischen Rechtsschulen selber bezeichnen diese Ordnung als Scharia, als göttliche Ordnung, von Menschen ausgelegt. Dass die Auslegungen sich verändern, ist eine banale Einsicht.
Entscheidend ist die Konstanz der Tradition um wichtige Kernpunkte, eine Tradition die aufrechterhalten wird durch das, was Jan Assmann die Textpflege im kulturellen Gedächtnis nennt. Es geht mir auch nicht um die Scharia insgesamt, sondern um zwei Dinge:
1. den Auftrag, Krieg gegen die Ungläubigen zu führen, bis die ganze Welt unter islamischer Herrschaft steht, dieser Krieg heißt Dschihad,
2. um die Dhimmitude, das ist der französische Begriff für den Status der Nicht-Muslime unter muslimischer Herrschaft.
Seit Beginn der klassischen Zeit (9. bis 11. Jahrhundert) teilen die muslimischen Juristen die Welt in zwei Teile, nämlich das "Haus des Islam" und das "Haus des Krieges". (…) Diese Zweiteilung hängt nicht davon ab, wo Muslime in großer Anzahl sind oder gar die Mehrheit darstellen, sondern davon, wo der Islam herrscht - in Gestalt der Scharia - oder wo er nicht herrscht.
Diese Dichotomie ist also keine religiöse, sondern eine politische. Zwischen diesen beiden Teilen der Welt herrscht naturgemäß so lange Krieg, bis das Haus des Krieges nicht mehr existiert und der Islam über die Welt herrscht (Sure 8, 39 u. 9, 41).
Daher besteht nach klassischer Lehre für die muslimische Weltgemeinschaft die Pflicht, gegen die Ungläubigen Krieg zu führen bis diese sich bekehren oder sich unterwerfen. Dieser Krieg heißt Dschihad.
Die Gemeinschaft der Muslime (Umma) ist folglich eine politische Gemeinschaft; das heißt, in ihrem Inneren kann es keinen Krieg geben - ausgenommen dem gegen Rebellen und gegen Häresien. Einzig der Krieg zur Unterwerfung der Ungläubigen ist legitim gewesen und obendrein Pflicht. (…)
Ist es eine individuelle Pflicht oder eine kollektive? Wenn es eine kollektive Pflicht ist, dann muss die muslimische Gemeinschaft in regelmäßigen Abständen Angriffskriege gegen die Ungläubigen führen. Wenn es eine individuelle Pflicht ist, dann müssen die Gläubigen auf eigene Faust Krieg gegen die Ungläubigen führen, falls die Emire zu lange Frieden mit dem Feind halten. Fatalerweise besteht darüber innerhalb der orthodoxen Tradition seit dem 9. Jahrhundert keine Einigkeit.
Viele Rechtsgelehrte definieren den Dschihad als individuelle Pflicht jedes tauglichen Muslim. Konsequenz dieser Lehre: wenn jeder einzelne Muslim alleine oder gruppenweise auf eigene Faust kriegerisch agieren muss, dann sind Attentate und Terroranschläge das Richtige. Al Qaida ist keine Verirrung, sondern entspricht dieser Traditionslinie. (…) Wer das abstreitet, kennt seine eigene Geschichte nicht. (…)
Der Kriegszustand dauert an, bis das Haus des Krieges vernichtet und die Welt erobert ist
Folglich sind Angriffskriege selbstverständlich und theologisch gerechtfertigt gewesen. (…)
Friedensverträge, welche islamische Herrscher mit nicht-islamischen abschlossen, gelten nur als Waffenstillstände; deshalb wurden sie in der Regel für höchstens zehn Jahre abgeschlossen; zwei Rechtsschulen erlaubten nur drei bis vier Jahre Frieden. Die kurzen Fristen ermöglichten es den militärisch überlegenen Muslimen die Gegenseite unentwegt zu erpressen; auf diese Weise sind im Laufe der Jahrhunderte riesige Mengen an Geldern und Menschen an die muslimische Seite geflossen.
Als sich die Kräfteverhältnisse verschoben, mussten muslimische Herrscher die Praxis ändern. So schloss 1535 Suleiman der Prächtige mit dem französischen König einen Frieden, der so lange gelten sollte, wie der Sultan lebte - ein Bruch mit der Tradition. (…)
Immer wieder wird bestritten, dass der Dschihad heute noch aktuell sei
Doch Peters kam in seiner großen Studie zum Ergebnis, dass auch im 19. und 20. Jahrhundert sehr viele Rechtsgelehrte der klassischen Doktrin anhängen. Er schreibt in seinem Buch "Islam and Colonialism":
... "Modernistische Autoren unterstreichen den defensiven Aspekt des Dschihad und betonen, Dschihad außerhalb des islamischen Territoriums sei nur gestattet, wenn die friedliche Verbreitung des Islam behindert wird oder wenn Muslime, die unter Ungläubigen leben, unterdrückt werden. Demgegenüber weichen fundamentalistische Autoren kaum von der klassischen Doktrin ab und betonen den expanionistischen Aspekt." ...
Der Haken dabei ist: die Modernisten vertreten in der Konsequenz genau dieselbe Lehre wie die Fundamentalisten. Denn der Dschihad ist ja berechtigt, wenn Muslime unterdrückt werden. Und ob Muslime unterdrückt werden, wer entscheidet das? Das entscheiden nicht die Gerichte in den säkularen Verfassungen, das entscheiden nicht die Menschenrechte. Das entscheiden die Normen der Scharia. (…)
Die dritte Islamische Gipfelkonferenz von 1981 bekräftigte in ihrer 5. Resolution die Gültigkeit der Dschihad-Doktrin für die Gegenwart:
... "Die islamischen Länder haben in ihrer Resolution klargestellt, dass das Wort Dschihad in seinem islamischen Sinn gebraucht wird, der keine Interpretation oder Missverständnis zulässt, und dass die praktischen Maßnahmen zu seiner Erfüllung zu ergreifen sind in Übereinstimmung
damit und in ständiger Konsulation zwischen den islamischen Ländern." ...
Das sagten nicht ein paar Spinner. Das sagten offizielle Vertreter von Staaten. Das war 20 Jahre vor dem 11. September 2001. Wenn das Leugnen aufhört, beginnt die Selbstbesinnung. Wir dürfen gespannt sein, wie diese Vergangenheitsbewältigung aussieht.
Der Dschihad führt zur Konversion, zur Tötung, zur Versklavung oder zur Dhimmitude. Was ist das? In der Scharia sind die Muslime die Herren, die Anhänger anderer Buchreligionen (Christen, Juden, Parsen) die Unterworfenen (Dhimmi); ...
(...) Die Leugnung selber muss jeden aufmerken lassen, dem die Menschenrechte heilig sind
Denn wer leugnet, ist unfähig zu erkennen, wer er kulturell ist und wie er geschichtlich dazu wurde. Unter der Maske des Antiimperialismus beschuldigen Muslime und islamophile Intellektuelle den Westen.
Der Unterschied ist freilich, dass der Westen von Anfang an, seit dem 16. Jahrhundert seine eigene Selbstkritik leistete und darum zu den Menschenrechten gelangte.
Und eben diese kritische Aufarbeitung der eigenen Geschichte wird durch Leugnungen über die islamische Geschichte systematisch behindert. Wer die historische Wahrheit einfordert, wird als Kulturkrieger bezeichnet.
Genau umgekehrt verhält es sich, Kulturkrieg führt, wer leugnet und wer Leugnungen mit Tabus und Sprechverboten zu sichern versucht.
Wir erleben im Moment genau das.
Wenn eine Seite diesen Krieg eröffnet, dann kann die andere Seite diesem Krieg nur ausweichen, indem sie einfach kapituliert. Wollen die europäischen Intellektuellen diese Kapitulation?
Im August 1990 verabschiedeten die Außenminister der "Organisation der islamischen Konferenz" in Kairo einen Entwurf einer "Erklärung der Menschenrecht im Islam". Die Erklärung (…) steht unter dem Vorbehalt, dass sie mit der Scharia übereinstimmen müssen.
Der Artikel 24 lautet:
... "Alle Rechten und Freiheiten, die in dieser Erklärung genannt werden, unterstehen der islamischen Scharia." ...
Und im Artikel 25 liest man:
... "Die islamische Scharia ist die einzige zuständige Quelle für die Auslegung oder Erklärung jedes einzelnen Artikels dieser Erklärung." ...
Wenn die Scharia den Menschenrechten übergeordnet ist, dann gibt es eben keine Menschenrechte, dann gilt eben die Scharia
Stellen Sie sich vor, Franco, Hitler oder Stalin hätten die Menschenrechte ausgerufen; und Stalin hätte hinzugefügt: Alle diese Rechte unterstehen der kommunistischen Idee; und Hitler hätte hinzugefügt: Sie unterstehen der nationalsozialistischen Ordnung.
Solche Menschenrecht sind keinen Pfifferling wert, weil die Verfasser sie im Prinzip leugnen. Anders gesagt: sie leugnen genau den Anspruch auf universale Menschenrechte, die von keiner Ordnung außer Kraft gesetzt werden dürfen.
In einer Diskussion berief sich in den 90er Jahren ein iranischer Ayatollah auf die Kairoer Erklärung, um die Ungleichheit zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen zu rechtfertigen: er argumentierte, die Menschen sind in ihrer Würde nur potentiell gleich, aktuell jedoch nach Graden der Tugend und der Rechtgläubigkeit verschieden.
Da liegt der Hase im Pfeffer. Es gibt also keine Menschenrechte. Und es wird sie auch niemals als islamische Menschenrechte geben. Weil es absurd ist, nach islamischen Menschenrechten zu suchen.
Menschenrechte sind weder christlich, noch europäisch, noch islamisch.
Sie sind entweder universal oder sie sind nicht.
Egon Flaig lehrt Altertumswissenschaften an der Universität Greifswald. Er beschreibt sich selbst als "weit entfernt von der traditionellen deutschen Althistorie". Er forscht interdisziplinär und orientiert sein Instrumentarium an dem des Soziologen Pierre Bourdieu.
Die in Auszügen dokumentierte Rede hielt Flaig auf den 34. Römerberggesprächen(Thema: Die Geltung der Menschenrechte.)